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Das Imperium der Woelfe

Das Imperium der Woelfe

Titel: Das Imperium der Woelfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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teils restauriert, meist jedoch verfallen, die schon Tausende Jahre auf dem Buckel zu haben schienen. Die Anordnung war immer dieselbe: Im Erdgeschoss und der ersten Etage logierten Läden, in der zweiten und dritten Handwerksbetriebe, in den oberen Etagen bis unter das Dach befanden sich Wohnungen, in denen zu viele Menschen lebten, zwei Mal, drei Mal, vier Mal unterteilt. In diesen Straßen herrschte eine Atmosphäre des Übergangs, der Durchreise. Viele Läden existierten nur kurze Zeit, man war immer in Bewegung wie Nomaden, keine einfache Lebensweise, bei der jeder jederzeit auf der Hut sein musste. Es gab Buden mit Sandwiches, die man aus der Hand aß, Reisebüros, um besser anzukommen oder wegzufahren, Wechselstuben, um Euros zu erwerben, und Copy-Shops, um Papiere zu kopieren... Ganz zu schweigen von den zahllosen Immobilienagenturen und all den Schildern mit der Aufschrift »Zu vermieten« oder »Zu verkaufen«...
    Paul sah in all dem die Dynamik eines ständigen Exodus, eines Stroms von Menschen, dessen Quelle weit entfernt lag und der unaufhaltsam durch diese Straßen floss. Neben all dem hatte das Viertel eine weitere Bestimmung: die Herstellung von Kleidern. Beherrscht wurde dieses Handwerk nicht von den Türken, sondern von der jüdischen Gemeinde des Sentier, doch seit den großen Migrationen der fünfziger Jahre hatten sich die Türken als wichtiges Glied der Warenkette etabliert. Sie belieferten die Großhändler dank ihrer vielen hundert Nähwerkstätten und Heimwerker, Tausende Hände arbeiteten Tausende Stunden und stellten annähernd eine Konkurrenz zu den Chinesen dar. Und doch hatten die Türken den Vorteil, eher gekommen zu sein, und somit war ihre soziale Position eine Spur legaler.
    Die beiden Polizisten waren durch diese belebten, erdrückenden Straßen voller Menschen gezogen. Vorbei an Lieferanten, offenen Lastwagen, Taschen, Bündeln, Kleidern, die von Hand zu Hand gingen. Chiffre hatte auch hier als Führer agiert. Er kannte die Namen, die Eigentümer, die Besonderheiten. Er zählte Türken, die ihm als Informanten gedient hatten, und Boten, die er aus dem einen oder anderen Grund »in der Hand hatte«, ebenso auf wie Restaurantbesitzer, die ihm etwas »schuldig waren«. Die Liste schien endlos lang. Paul hatte erst versucht, sich Notizen zu machen, es dann aber aufgegeben. Er hatte sich von Schiffers Erklärungen leiten lassen und dabei das Treiben um sie herum beobachtet, die Schreie, das Gehupe und den Schmutz der Straße in sich aufgenommen, alles, was dieses Viertel ausmachte.
    Dienstagmittag hatten sie die letzte Grenze überschritten, um in den Kern des Viertels einzudringen, den Bereich, der Klein-Türkei genannt wurde. Dazu gehörten die Rue des Petites-Ecuries, der Hof und die Passage desselben Namens, die Rue d'Enghien, die Rue de l'Echiquier und die Rue du FaubourgSaint-Denis. Nur wenige Hektar maß das Gebiet, dessen Gebäude, Dachgeschosse und Keller fast ausschließlich von Türken bewohnt waren.
    Diesmal hatte Schiffer ihm alles erläutert, ihm die Codes und Schlüssel dieses einzigartigen Dorfs geliefert. Er hatte erläutert, welchem Zweck jeder Hauseingang, jedes Gebäude, jedes Fenster diente. Der Hinterhof, der zu einem Hangar führte und in dem sich in Wirklichkeit eine Moschee befand, das unmöblierte Lokal hinter einem Innenhof, in dem sich die extreme Linke traf... Schiffer hatte Paul sämtliche Lichter aufgesteckt, ihm Geheimnisse verraten, die er seit Wochen zu verstehen suchte. Wie etwa das der schwarz gekleideten blonden Männer, die immer im Hof der Petites-Ecuries standen:
    »Das sind Lazes, die vom Schwarzen Meer stammen«, erklärte Chiffre, »aus dem Nordosten der Türkei, Kriegsherren und Kampfhähne. Mustafa Kemal stellte höchstpersönlich seine Leibgarde aus ihnen zusammen. Sie sind mit einer uralten Legende aus der griechischen Mythologie verbunden, sie bewachten in Kolchis das Goldene Vlies.«
    Oder jene düstere Bar in der Rue des Petites-Ecuries, in der das Foto eines dicken Mannes mit Schnurrbart prangte: »Das Hauptquartier der Kurden. Auf dem Porträt ist Apo zu sehen, Onkel. Abdullah Öcalan, der Chef der PKK, der gerade im Knast sitzt.«
    Danach hielt Chiffre eine ausladende Rede, die einer Nationalhymne gleichkam: »Das größte Volk der Erde ohne eigenes Land, im Ganzen fünfundzwanzig Millionen, zwölf davon in der Türkei. Wie die Türken sind auch sie Muslime. Wie die Türken tragen sie Schnurrbärte. Wie die Türken arbeiten sie in der

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