Das Imperium der Woelfe
türkischen Mafia. Wir haben uns von Anfang an geirrt. Sie sind diejenigen, die die Frauen umbringen.«
Kapitel 37
Die Gleise erstreckten sich ins Unendliche, ließen dem Blick keine Ruhe. Ein hartes, starres Geflecht, das Geist und Sinne gefangen hielt. Stählerne Stränge, die sich wie Stacheldraht in die Pupillen bohrten, Weichenanlagen, die neue Richtungen vorgaben, ohne sich je von Nieten oder Eisen zu befreien, und Ausblicke, die sich im Horizont verloren, doch immer dasselbe Gefühl von unentrinnbarer Verwurzelung vermittelten. Und die Brücken aus schmutzigem Stein oder schwarzem Metall bildeten - mit ihren Leitern, Türmen, Geländern - nur einen weiteren Panzer um das Ganze.
Schiffer hatte eine verbotene Treppe benutzt, um auf die Gleise zu gelangen. Paul hatte ihn eingeholt und sich den Knöchel zwischen den Schwellen verstaucht.
»Wer sind die Grauen Wölfe?«
Schiffer ging weiter, ohne zu antworten, er atmete langsam und tief, während schwarze Steine unter seinen Füßen knirschten.
»Es würde zu lange dauern, dir alles zu erklären«, sagte er schließlich. »Das hat alles mit der Geschichte der Türkei zu tun.«
»Großer Gott, jetzt reden Sie endlich! Sie schulden mir diese Erklärung!«
Chiffre schritt weiter voran, hielt sich die linke Seite und sagte mit gedämpfter Stimme: »In den siebziger Jahren herrschte in der Türkei dieselbe überhitzte Atmosphäre wie in Europa. Linke Ideen hatten großen Einfluss. Eine Art Mai '68 bereitete sich vor... Dort aber waren die konservativen Kräfte schon immer stärker. Es bildete sich eine Gruppe von Reaktionären, Männer der extremen Rechten, angeführt von einem Mann namens Alpaslan Turkes, einem richtigen Nazi. Erst formierten sich nur kleine Gruppen an den Universitäten, dann warben sie junge Bauern auf dem Land an. Diese Rekruten wurden >Graue Wölfe< genannt, >Bozkurt<. Oder auch >Junge Idealisten<, >Ülkü Ocaklari<. Ihr Hauptargument war von Anfang an Gewalt.«
Obwohl ihm heiß war, klapperte Paul so heftig mit den Zähnen, dass er die Kiefer in seinem Schädel aufeinander schlagen hörte.
»Ende der siebziger Jahre«, fuhr Schiffer fort, »griffen die extreme Rechte und die radikale Linke zu den Waffen. Attentate, Plünderungen, Morde: Damals zählte man etwa dreißig Tote pro Tag. Es war ein richtiger Bürgerkrieg. Die Grauen Wölfe wurden in Trainingslagern ausgebildet. Man rekrutierte immer jüngere Leute. Sie wurden indoktriniert, man machte Tötungsmaschinen aus ihnen.«
Schiffer marschierte noch immer mit großen Schritten an den Gleisen entlang, sein Atem wurde ruhiger, und seine Augen fixierten die leuchtenden Schienenstränge, als gäben sie ihm die Richtung seiner Gedanken vor:
»Schließlich übernahm 1980 die türkische Armee die Macht. Ordnung kehrte ein, die Kämpfer beider Seiten wurden verhaftet. Doch die Grauen Wölfe ließ man bald wieder frei, denn ihre Überzeugungen deckten sich mit denen der Militärs. Aber sie waren alle arbeitslos, und die in den Lagern ausgebildeten Kinder konnten nur eines, nämlich töten. Und so wurden sie ganz folgerichtig von denen engagiert, die Handlanger brauchten. Zuerst von der Regierung, die froh war, junge Kerle zu finden, die auf diskrete Weise die Führer der Armenier oder kurdische Terroristen umbrachten. Auch von der türkischen Mafia, die ihren Einfluss auf den Opiumhandel am Goldenen Horn ausweitete. Für die Mafia waren die Grauen Wölfe ein Geschenk des Himmels. Eine erfahrene, bewaffnete und kampferprobte Truppe. Vor allem aber stand sie auf Seiten der Regierung. Seitdem erfüllen die Grauen Wölfe Verträge. Ali Agca, der Mann, der 1981 auf den Papst geschossen hat, war ein Bozkurt. Die meisten von ihnen sind heute Söldner, die ihre politische Meinung an der Garderobe abgegeben haben. Die Gefährlichsten sind aber immer noch die Fanatiker, Terroristen, zum Schlimmsten fähig, Erleuchtete, die an die Überlegenheit der türkischen Rasse und an die Wiederkehr eines türkischen Weltreichs glauben.«
Paul hörte zu, er fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Er sah keinen Zusammenhang zwischen diesen weit zurückliegenden Geschichten und seinen Ermittlungen. Schließlich stieß er hervor: »Und diese Typen sollen die Frauen getötet haben?«
»Adidas-Jacke hat gesehen, wie sie Ruya Berkes entführten.«
»Hat er ihre Gesichter gesehen?«
»Sie waren vermummt, in Einsatzkleidung.«
» Einsatzkleidung ?«
Chiffre lachte verächtlich: »Es sind Krieger, mein Junge.
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