Das Imperium
sie sich über die Gelegenheit, Zeit mit dem attraktiven Erstdesignierten zu verbringen. »Ich spreche kurz mit Botschafterin Otema.« Der Kurier folgte ihr durch den Flur zur anderen Unterkunft, in der die alte grüne Priesterin bei den Schösslingen saß.
Auf dem Boden vor Otema ausgebreitet lagen Dokumente, die sie von Erinnerer Vao’sh erhalten hatte. Sie las laut vor, Gedichte, die zur Saga gehörten, von ildiranischen Mythen und Legenden berichteten. Als sich Nira näherte, sah Otema wie verträumt auf. »Dieses große Epos enthält die erstaunlichsten Geschichten. Für die Weltbäume ist alles völlig neu.« Otemas Augen funkelten, als sie die Dokumente berührte. »Eine einzelne Person würde Jahrzehnte brauchen, um dies zu überfliegen, geschweige denn laut vorzulesen.«
»Deshalb bin ich hier, um Ihnen zu helfen, Botschafterin.« Nira fand die ildiranischen Geschichten von Heldentum, Tapferkeit und Tragödie ebenso faszinierend wie Malorys Epos von König Artus. »Allerdings sind auch wir beide nicht imstande, die ganze Saga zu lesen. Dazu wäre mehr nötig als die Zeit eines Lebens.«
»Ich weiß, ich weiß.« Die alte grüne Priesterin runzelte kummervoll die Stirn, wodurch ihre Tätowierungen in Bewegung gerieten.
Der Kurier wartete vor Otemas transparenter Tür, das Gesicht ruhig – trotzdem bemerkte Nira einen Hauch Ungeduld darin. Neben Otema sah sie eine Spiegeltafel, die der ihren ähnelte. Sie fühlte sich von Enttäuschung erfasst.
»Wie ich sehe, haben Sie ebenfalls eine Einladung erhalten, Botschafterin.« Nira hob ihre und Licht glitzerte auf der spiegelnden Oberfläche. »Sehen wir uns zusammen mit dem Erstdesignierten das ildiranische Turnier an?«
»Oh, ich glaube nicht, Nira. Es wartet zu viel Arbeit auf mich. All diese Dokumente müssen vorgelesen werden. Mir wird schwindelig, wenn ich an die vielen Informationen denke, die es mit dem Weltwald zu teilen gilt.« Otema sah die Niedergeschlagenheit in Niras Gesicht und lächelte. »Aber du kannst ruhig gehen. Bitte repräsentiere Theroc an meiner Stelle.« Als Nira mit Freude reagierte, fügte sie schroff hinzu: »Außerdem bin ich sicher, dass der Erstdesignierte deine Gesellschaft meiner vorzieht. Die Einladung an mich war vermutlich eine reine Formalität.«
»Das stimmt nicht, Botschafterin!«, erwiderte Nira, protestierte aber nicht zu sehr.
Eine Kuppel überspannte den Turnierpavillon und Nira saß neben Jora’h in seiner privaten Zuschauerloge. Der Erstdesignierte beugte sich zu ihr, und seine wie rauchige Topase wirkenden Augen glänzten. Wenn er lächelte, fühlte sich Nira dahinschmelzen.
»Ich bedauere, dass Ihre Begleiterin Otema nicht ebenfalls kommen konnte«, sagte er.
Nira lachte unwillkürlich. »Nein, das stimmt nicht.« Jora’h wich überrascht zurück und lachte dann ebenfalls. »Vielleicht sind meine Gefühle zu deutlich zu sehen. Sie haben Recht. Ich wäre der Botschafterin gegenüber ein makelloser Gastgeber gewesen, aber mir ist es lieber, den Nachmittag mit Ihnen zu verbringen.«
»Mit mir… und fünftausend anderen Ildiranern?« Nira deutete zum Publikum in der hellen Arena. Die Zuschauer saßen in einzelnen Gruppen, offenbar getrennt nach den unterschiedlichen Geschlechtern. Als Nira den Blick über die Tribünen schweifen ließ, sah sie verschiedene Gesichts- und Körperstrukturen.
»Ah, aber ich sehe nur Sie, Nira.« Fanfaren erklangen, und das Publikum jubelte. »Jetzt beginnt das Turnier.« Jora’h strich der jungen grünen Priesterin mit den Fingerkuppen übers Handgelenk und faltete dann keusch die Hände im Schoß.
Ildiranische Turniere waren ein wichtiger ritueller Sport, der in überdachten Amphitheatern stattfand. Die Kuppel bestand abwechselnd aus Spiegelflächen und durchsichtigen Segmenten und zwischen den Tribünen erstreckte sich ein sandiger Wettkampfbereich. Krieger in auf Hochglanz polierten, reflektierenden Rüstungen kamen aus dunklen Öffnungen, ritten auf grauen, sechsbeinigen Reptilien, die nur aus Muskeln, Stacheln und Schuppen zu bestehen schienen. Die Tiere erinnerten Nira an Komodo-Warane, mit Furchen an den Kehlen und Knubbeln an den Beinen.
Die Kämpfer näherten sich langsam und ihre Reittiere hinterließen tiefe Fußspuren im Sand. Die Reptilien zischten und dornenbesetzte Zungen kamen aus ihren Mäulern, aber ihre Reiter wahrten einen ausreichend großen Abstand, damit niemand zu Schaden kam.
Die Bewaffnung der ildiranischen Ritter bestand aus Laserlanzen.
Weitere Kostenlose Bücher