Das Implantat: Roman (German Edition)
erzählen, komme aber nicht dazu. Sofort packt er mich, nimmt mich in die Arme und drückt mich fest an sich.
»Ich habe es in den Nachrichten gesehen, Owen. Tut mir leid«, sagt er.
Dann sieht er sich auf seltsame Weise auf der Straße um. Schließlich zieht er mich ins Wartezimmer und schließt die Tür ab. Ich blicke ihn verwirrt an, woraufhin er etwas sagt, das mir den kalten Schweiß auf die Stirn treibt: »Die Polizei sucht nach dir. Du sollst nur ein paar Fragen beantworten. Aber es gibt gewisse Dinge, die du wissen musst.«
Wir laufen an den vertrauten Fotos vorbei, auf denen die glücklichen Patienten meines Vaters abgebildet sind: ein Kleinkind, das seiner Mutter eine aus Kohlefaser gefertigte Armprothese um den Hals legt, Zehn- und Zwölfjährige mit Wartungsbuchsen in bunten Farben, die sie sich aus dem dicken Ordner ausgesucht haben, den mein Vater extra dafür bereithält, und ein älterer Mann in khakifarbenen Shorts, der in stolzer Haltung auf dem skelettartigen Grundgerüst aus Metall steht, das seinen rechten Fuß und Unterschenkel ersetzt.
Körper und Geist lassen sich nicht trennen. In den letzten zehn Jahren konnte man bei jedem Upgrade immer auch einen Neuronalen Autofokus dazuwählen – egal, ob man nun eine einfache Prothese, ein medizinisch indiziertes Exoskelett oder ein Netzhautimplantat erhalten sollte. Das Gerät verbessert die Kommunikation zwischen Geist und Körper. Möbelt einen ein bisschen auf, heißt es. Jedes Gesicht an der Wand hat dieses unterschwellige Funkeln in den Augen, das auf eine gesteigerte Intelligenz hinweist. Übertaktete Hirne und glänzende neue Glieder.
Mein Dad führt mich durch das leere Wartezimmer und über einen nach Desinfektionsmittel riechenden Gang zu den Hinterräumen.
Fast überall ist das Licht aus. An einem Fenster ist die Scheibe kaputt. Auf dem Boden liegen Papiere verstreut, auf denen schmutzige Stiefelabdrücke prangen.
»Hier gab es heute Morgen eine Razzia«, erklärt mein Vater. »Die Behörden haben alles beschlagnahmt.«
»Wegen der Gerichtsentscheidung?«
Er nickt. »Ein Forschungsmoratorium. Vaughn macht mit seinen Kundgebungen alle verrückt.«
Mein Vater legt den Kopf schief und horcht in die gespenstische Stille hinein, die auf dem Gang herrscht. Dann öffnet er die Tür zu seinem kleinen Büro. Eine billige Jalousie klappert, als die Tür aufschwingt. Mein Vater zwängt sich in seinen quietschenden Bürostuhl. Wo sein Computer stand, zeichnet sich nur noch ein blankes Rechteck auf dem Schreibtisch ab. Auch die Aktenordner, die in den Regalen standen, sind nicht mehr da.
Ich setze mich ihm gegenüber.
Als Kind habe ich immer mit meinen Spielzeugautos unter diesem Schreibtisch gespielt. Nach dem Tod meiner Mutter habe ich hier unzählige Stunden verbracht, sobald die Schule aus war. Im Schein dieser Leuchtstoffröhren bin ich aufgewachsen, doch jetzt wirkt das Büro verwüstet und fremd.
»Was passiert hier?«, frage ich.
Mein Vater schüttelt nur den Kopf. »Ich muss dir so viel erzählen und habe viel zu lange gewartet. Es tut mir leid.«
»Es tut dir leid?«
Er räuspert sich, wendet den Blick ab und blinzelt unsicher. Mir fällt auf, wie viel älter er plötzlich aussieht.
»Was tut dir leid?«, will ich wissen.
»Du musst verstehen, wie enthusiastisch wir waren, als wir damals mit dieser Forschung angefangen haben, Owen. So viel Gutes schien sich damit tun zu lassen. Plötzlich konnten wir Krankheiten heilen, Menschen ein besseres Leben ermöglichen. Aber als du dann diesen Unfall hattest …« Er holt tief Luft. »Es tut mir leid, dass ich es dir nie gesagt habe.«
»Was hast du mir nie gesagt?«, frage ich mit hohler Stimme.
Dunkel ahne ich die Antwort bereits. Wieder erinnere ich mich daran, wie ich in diesen Räumen gespielt, meine Hausaufgaben erledigt und manchmal sogar hier geschlafen habe, wenn mein Vater länger arbeitete. Und ab und zu, sobald die Schwestern Feierabend gemacht hatten und die Vordertür verschlossen war, rief mein Vater mich in den Operationssaal, um sich mein Implantat anzusehen. Er wolle sichergehen, dass ich keine Anfälle mehr haben würde, sagte er. Während ich das Anatomie-Poster an der Wand anstarrte, legte er Mundschutz und Augenlupe an. Als er das letzte Mal an meinem Implantat herumgebastelt hatte, ging ich noch zur Highschool und war ungefähr so alt wie Samantha. So alt, wie sie ab jetzt immer sein wird.
Stirnlappen. Schläfenlappen. Motorcortex. Sensorischer
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