Das Implantat: Roman (German Edition)
blicke ich noch kurz zu ihm auf, dann schiebt sich die Dachkante zwischen mich und seine hagere Gestalt.
Unten strömen weitere Pilger zu Lyles Wohnwagen. Die meisten schauen mich nicht direkt an, und trotzdem glaube ich, einen gewissen Ausdruck auf ihren Gesichtern erkennen zu können. Haben sie Mitleid mit mir? Oder ist es eher so, dass sie mich fürchten?
Unruhiges blaues Licht dringt durch die Fenster von Lucys Wohnwagen nach draußen. Ich stehe fünf Minuten lang zitternd auf der Veranda, bevor ich schließlich den Mut aufbringe, leise an die Tür zu klopfen.
In knapp einer Stunde geht die Sonne auf. Doch es gibt noch etwas, das ich tun muss, bevor ich gehe. Etwas, das ich bereits vor Tagen hätte tun sollen.
Lucy öffnet mir und lässt mich eintreten. Dick eingemummt in mehrere Decken auf einmal schläft Nick auf der Couch im Wohnzimmer. Der stumm geschaltete Fernseher taucht den Raum in stumpfes Blau. Das Flimmern tanzt in Lucys Wimpern. Sie ist das Beste, was ich während meiner kurzen Zeit hier in Eden gefunden habe. Sie hat mich behandelt, als würde ich zur Familie gehören. Hat dort draußen auf dem Feld mein Leben gerettet. Und ich habe mich nicht mal erkenntlich gezeigt.
Ich beginne ganz bescheiden.
»Es tut mir leid«, sage ich mit gesenkten Augen. »Ich habe die Dinge nicht unter Kontrolle, Lucy. Hatte ich nie. Ich habe versucht, Lyle aufzuhalten, doch es ist mir nicht gelungen. Und Nick konnte ich auch nicht beschützen. Ich habe dich angeschrien, weil ich mich nach der Tracht Prügel vor dir geschämt habe und mir wie ein Idiot vorkam. Du musst mir nicht vergeben, aber …«
In dem Moment fällt es mir auf.
Mein Hemd. Es liegt auf der Sofalehne. Es ist das Hemd, das ich an jenem Tag trug, als diese Halbstarken mich verprügelt und angepisst haben. Ich habe es ins nächstbeste Gebüsch geworfen und anschließend nicht mehr daran gedacht. Jetzt liegt es dort – gewaschen, gebügelt und ordentlich zusammengefaltet.
Lucy folgt meinem Blick.
»Ich wusste nicht genau, wie ich es dir zurückgeben soll«, meint sie.
Eine warme Brise weht durchs Fenster. Sie riecht nach Gras und auch ein bisschen nach Motorenöl. Zierlich und voller Sommersprossen steht Lucy vor mir, nur eine Armlänge entfernt im schwachen, flackernden Licht des Fernsehers. Ihre Mundwinkel zeigen nach unten, doch um die Augen hat sie jede Menge Lachfalten.
Trotz all dem Wahnsinn, der sich in den letzten Stunden zugetragen hat, lächle ich.
Nichts würde ich lieber tun, als Lucy Crosby jetzt zu küssen. Kaum kommt mir dieser Gedanke, fühle ich mich sofort wie ein Zehnjähriger, der auf dem Sprungturm steht. Der zitternd in den Abgrund blickt.
Na los, trau dich, Junge.
»Ich gebe mir Mühe«, erkläre ich.
»Ich weiß.«
Es ist wahrscheinlich der falsche Moment. Dennoch mache ich einen Schritt vorwärts, lege die Arme um Lucy und küsse sie. Sie erwidert den Kuss. Mit aneinandergepressten Körpern stehen wir im Wohnzimmer, und für einen wunderbaren Augenblick sind alle Gedanken aus meinem Kopf verbannt.
Als ich mich schließlich von ihr löse, sehe ich ein Schimmern in ihren Augen.
»Lyle ist in seinem Wohnwagen«, sagt sie und fährt mit dem Finger über den Gurt des Seesacks, den ich über der Schulter trage. »Müsste eigentlich zum Aufbruch bereit sein.«
Ich will sie noch mal küssen, doch sie legt die Hand auf meine Brust.
»Die Polizei wird bald hier sein«, erklärt sie.
»Ja, richtig«, erwidere ich.
»Sei also vorsichtig«, gibt sie zurück.
»Kann ich dich was fragen?«
»Was?«
»Kann ich dich mal ausführen? Wenn ich wieder zurück bin?«
»Du weißt, dass ich einen Sohn habe.«
»Ja, und ich mag ihn.«
»Ich lebe in einer Wohnwagensiedlung, zusammen mit lauter Außenseitern.«
»Und du bist die Hübscheste von allen. Bei weitem.«
»Ich werde es mir überlegen«, sagt sie.
Und dann lächelt sie und gibt mir doch noch einen Kuss.
Ich bin zu den Wohnwagen am Rande von Eden unterwegs, und hinter mir laufen die letzten Nachzügler aus Lyles Armee. Aus dem ganzen Land müssen seine Soldaten angerückt sein. Wenn ich daran denke, bekomme ich einen trockenen Mund.
Der Sonnenaufgang steht kurz bevor. Zeit, aufzubrechen.
Je näher ich Lyles Wohnwagen komme, umso mehr sinkt mir der Mut, den ich eben noch gespürt habe. Die fünf oder sechs Mobilheime, die in einer abgelegenen Ecke der Siedlung stehen, bilden einen groben Kreis, in dessen Mitte ein großes Lagerfeuer brennt. Der harte Boden
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