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lasen: »Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk aber bleibt und dieser Moltke auch!«
Bevor Wassilij Wassiljewitsch seinen Gast nach Hause fahren ließ, diesmal von einem Soldaten, der Litauer war und, wie der Major versicherte, Nichtraucher, verzehrten sie ein halbes Schwein miteinander und tranken Erhebliches dazu, und es war schon Abend, als der Kommandant den Assistenten seiner alten Freundin Johanna Müntzer vor das Haus geleitete, und es war mitten im heftigen Abschied, als sich plötzlich von den vier Ecken des Platzes ein mächtiges Dröhnen erhob, ein Donnern und doch einer menschlichen Stimme noch ähnlich, und es erschreckte David sehr, aber Wassilij Wassiljewitsch Spiridonow klopfte ihm beruhigend auf die Schulter und schrie ihm ins Ohr: »Es ist nur der Genosse Andermann. Er behauptet, es ist zur Aufklärung der Bevölkerung, aber ich weiß, für wen es ist. Er liest Moltke vor – die etwas fragwürdigen Stellen. Das macht er immer um diese Stunde.«
Dann schubste er David freundlich in den Wagen undwinkte freundlich, trat zurück, ballte die Fäuste, holte Luft und schrie etwas, das kein Ende nehmen wollte, schrie so, daß es zu hören war trotz Motorgeräusch und vierfach dröhnender Moltke-Zitate, und David, obwohl nur mangelhaft mit Kenntnis russischer Sprache versehen, täuschte sich nicht: Hier war von Fritze Andermann nicht die Rede, dies war Soldatenrede, dies war geballte Kriegsfolklore, dies waren Schlachtrufe, Schreie in sibirischen Sturm, Brüllen im Wolchowschlamm, dies war Markigstes vom Kosakenadel, ukrainische Lautmalerei, Urworte baschkirisch, hier donnerte Mütterchen Rußlands zornigster Sohn Verwünschungen, die niemanden ausnahmen, den Vater nicht, den Enkel nicht, den Oheim nicht und nicht einmal das Mütterchen und auch nicht, wenn David seinen Ohren da trauen durfte, den Stabschef und Generalfeldmarschall Graf Helmuth von Moltke.
Fort ging die Fahrt, fort in den dunklen und bald auch sehr stillen Abend von Mecklenburg; fort trug es David, zurück in die Neue Berliner Rundschau, zurück zu Johanna Müntzer; vorwärts trug es ihn durch die Zeit, aber die Schlacht um den Grafen von Moltke vergaß er nicht, und das Fluchen des Majors Wassilij Wassiljewitsch Spiridonow konnte er nicht vergessen, denn das, so hätte er geschworen, das hielt noch immer an.
Und Fritze Andermann? – Nun, wie konnte er den vergessen – er sah ihn ja häufig und hatte ihn doch eben noch gesehen. Und hätte ihn je der fremdartige Wunsch befallen, den Minister Andermann im Bilde zu betrachten, dem wäre das Archiv der Abteilung Gabelbach gewachsen gewesen. Minister hatten die da, jede Menge Minister und auch jede Menge Minister Andermann.
Allein, jede Menge hieß noch nicht: alles. Ein Andermann-Bild gab es nur in einer Ausfertigung, und die lag in Davids Wohnung, in der Kassette, zu der David einen Schlüssel hatte und niemand sonst. Nicht einmal Franziska, und nicht einmal ihr zeigte er das Foto, obwohl es von ihrgemacht worden war und obwohl es mit ihr sehr zu tun hatte, mit ihr und David, mit ihr und David und Klein-David, mit der Familie Groth und der Liebe zwischen David und Franziska, Fran genannt. Unter technischen Gesichtspunkten taugte das Bild nicht viel; es war ein Mann darauf zu sehen, bedrängt von anderen Männern, gegen einen Pfeiler gedrückt im Regen, ein Mann, der was war: entsetzt, erschrocken, wütend, verzweifelt, erstaunt, ungläubig, voll Haß und am Ende?
Das Bild half nicht weiter; von der Kleidung der Männer war kaum etwas zu erkennen, es konnten Leute von irgendwo sein, der Pfeiler konnte irgendein großes Gebäude stützen, und die Stunde konnte die Stunde irgendeines Tages voll Regen sein.
Und unter moralischen Gesichtspunkten taugte das Bild für keine Öffentlichkeit, nicht einmal für die an Gabelbachs Wand; es war nicht vorzeigbar, mußte Verschlußsache sein und blieb es auch in Davids Kassette.
Manchmal hatte David gedacht, er sollte es zerreißen, und einmal hatte er gemeint, er sollte es Fritz Andermann geben, aber er hatte es weder vernichtet noch fortgegeben; er hatte es für sich behalten, weil er es brauchte, für sich.
David neigte nicht sehr zu Fetisch und Symbol, aber ein Rest solcher Neigung war, wie in jedem Menschen, auch in ihm, und es wäre ihm nur als eine andere Art, ein deutlicheres Zeichen noch von Fetischismus erschienen, hätte er dem bohrenden Wunsch nachgegeben und das Bild vernichtet.
Er war dabeigewesen, als es aufgenommen worden
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