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Das Impressum

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Titel: Das Impressum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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draufgekommen waren, daß er so blind gar nicht war; da war ein Mädchen, das Heike hieß und sich im Wald am Georgsberg den Puls aufschnitt, an derselben Stelle, an der man sie ein paar Wochen davor noch gesehen hatte, sehr lustig damals noch und sehr lebendig unter einem Kradschützen vom dritten Bataillon, und wenn Fidel-Fritz sich aufgehängt hat, weil niemand mehr ihm sein Geigenspiel honorieren wollte, denn er war ja gar nicht blind, so hat sich das Mädchen Heike aufgeschlitzt, weil es das Lied nicht mehr hören konnte, das rasch aufgekommene Volkslied – o nie versiegende deutsche Sangeslust, o nie versagende deutsche Reimeskunst! – vom schönen Mädchen Heike, das sich unter einer morschen Eicke von einem strammen Schützen – doch hier macht ihr nur selber weiter!
    Der dritte war Wilhelm Groth, mein Vater, aber von dem erzähle ich später, und wenn ich ihn und meinen Namenspaten David Blumenthal und den Hirsch Ascher, den sie mit Nachttöpfen erschlagen haben, einmal auslasse, dann warRatzeburg ein ruhiger Ort, in dem es sich leben ließ. Man mußte sich nur ruhig verhalten, und lange Zeit konnte man hier sogar Jude sein.
    Und was meinem Vater dort passiert ist, hätte ihm auch irgendwo anders, irgendwo anders in Deutschland, passieren können.
    Er hätte auch in Oldenburg bei einem Herrn Blumenthal arbeiten können. Er hätte auch in Friedrichshafen für einen Herrn Blumenthal vor Gericht treten können. Er hätte sich auch von Bitterfeld aus ins Lager bringen lassen können. Er hätte auch in Oldesloe einen Zementwagen fahren können. Er hätte auch in Schandau Soldat werden können. Er hätte auch in Weißenfels sterben können.
    Daß er dennoch dies alles in Ratzeburg tat, hat nichts mit Ratzeburg zu tun, aber meine Erinnerung hat damit zu tun, meine Erinnerung an ihn und an Ratzeburg.
    Das ist schon seltsam: Zuerst, wenn ich nach ihr gefragt werde, sehe ich die Stadt voll Licht und fröhlichem Wind, zuerst rieche ich die Reusen und die Kartoffelfeuer, höre den Wakenitzdampfer, der ein Motorboot war, und höre die Marktfrauen und den Karren des Eismanns. Dann kommen mir Nebenmenschen vor die Augen, die kleinen Freunde und die großen Feinde, mein Onkel Hermann; Herr Pamprin; Kasten, das Miststück; Fidel-Fritz und Ritzen-Heike und Fischermeister Schliecks mit der Delle im Zylinder, und immer noch mag ich die Stadt und sage, sie war kein Hungernest und kein Mordpfuhl, und wie ihr Glanz war auch ihr Elend nur zweiter Klasse. Es hat ihr zu beidem an Entschiedenheit gefehlt.
    Dann aber komme ich zu meinem Vater, und da muß ich sagen: Dem hat es am Ende oder zum Ende nicht an Entschiedenheit gefehlt, der hat sich erschossen, in voller Uniform, zwischen den Buchen im Fuchswald, unter einem Galgen, der ihn gar nichts anging, und deshalb bin ich fort aus Ratzeburg.
    Deshalb ist David Groth fort aus Ratzeburg, als er sechzehnwar. Als David Groth sechzehn war und Wilhelm Groth fünfundvierzig, haben beide einen Schlußstrich unter ihren Teil an der Stadt gezogen, der eine für immer und der andere für lange, und beide hatten dafür beinah denselben Grund.
    Wer lacht da, wenn es heißt, in Namen schon steckten Zeichen, gute oder böse? Wer lacht, wenn er hört, Wilhelm Groth könnte heute Rentner sein und David Groth brauchte wahrscheinlich nicht Minister zu werden, wenn ein bestimmter Zahnersatzdepotinhaber nicht David Blumenthal, sondern, sagen wir, Franz oder Friedrich mit Vornamen und mit Vatersnamen nichts mit -thal oder -baum oder -heimer am Ende geheißen hätte?
    Da gibt es nichts zu lachen, denn dann hätte David Franz oder Friedrich geheißen, hätte womöglich aufs Gymnasium gedurft und gar auf die hohe Schule, wäre zum Ende des Krieges noch Fähnrich geworden oder auch Leutnant, wäre kaum als Bote zur Neuen Berliner Rundschau gegangen, hätte Ratzeburg nicht meiden müssen und meiden wollen, wäre jetzt Zahnarzt dort oder Chef einer Starfighter-Staffel oder Bootsverleiher auf dem Bodensee oder Pressesprecher der IG Metall, brauchte nicht einzutreten in die Regierung der DDR, wüßte vielleicht nicht einmal, daß es so etwas gibt, und das wäre doch ein Leben!
    Und Wilhelm Groth hätte, bei einigem Glück, sein Leben noch. Aber alledem ist nicht so. Wilhelm Groth hat seinen Sohn auf den Namen David taufen lassen, hat dabei weniger an Goliath gedacht als an gut Wetter und ein nettes Taufgeschenk, und dann ist er ein bißchen zu lange dankbar gewesen und ein bißchen zu aufgebracht über den Tod

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