Das Impressum
Lebens.
Kaltblütigkeit war nicht das Wort, das dies erklärte. Es verhielt sich einfach; es war leicht erklärt, wenn man bedachte, daß Franziska im Gegensatz zu den Versammelten an dem frommen Vorgang nicht weiter beteiligt war; sie hatte auf das Jawort des Bräutigams gewartet, der aber war noch nicht an der Reihe gewesen, und so hatte sie nicht so innig wie die Anverwandten des jungen Paares auf die Worte des Pastors gelauscht und war nicht wie jene aus tiefer Anteilnahme seelisch bereit gewesen, die Aufforderung des Kirchenmannes als auch ein wenig an sie gerichtet zu nehmen und im Chore mit der nunmehr jungen Frau ja zu sagen oder zu denken; sie war einfach nicht, wie die anderen, eingestimmt gewesen, war nicht Teil der Gemeinschaft und hatte noch das Denken zwischen sich und dem Geschehen, und wo die anderen, ohne zu fragen, in den Sand sprangen, hatte sie noch erst ein Nanu im Kopf, und der Daumendruck auf den Auslöserknopf war nur ein Reflex.
Aber es geschah ihr nichts; der einzige Blessierte war der Pastor; er hatte sich beim Fall die Kinnlade ausgerenkt, undseine Sprache war nun doppelt verquetscht, als er zu Franziska sagte: »Sehen Sie, ich sagte ja, ich habe meine Gründe!«
Das Kinn wurde wieder gerichtet, die noch heilen Schindeln eingesammelt, ein älterer Cousin aus der Ohnmacht geholt, der Hilfsaltar neu aufgebaut, die Trauung vollzogen, der Bräutigam mit offenem Mund fotografiert, die Hochzeit gefeiert, der Sprung des Pfarrers belacht, der Schreck begossen und das Glück auch und wieder das Glück und noch einmal der Schreck und Prost und Dunnerwetter und ei der Daus, und Franziska fuhr nach Haus.
Dort entwickelte sie das Bild, und es war das Bild ihres Lebens. Es war über die Maßen komisch und über die Maßen schaurig, aber was danach kam, durch das Bild danach kam, war für Franziska schaurig über alles Maß.
Denn sie verlor ihren Bruder dadurch und dadurch wieder ihren Vater, und auch so war dieses Foto, auf dem eine geputzte Hochzeitsgesellschaft im Bördesande lag, während hinter ihr ein Stück Scheunendach in die Lüfte flog, das Bild ihres Lebens.
Dies aber konnte die Fotografenfamilie Grewe noch nicht wissen, als sie den ersten Abzug betrachtete und sich vor Lachen nicht halten mochte; eine komplette Festgemeinde in Bauerngala auf dem Boden, das hatte noch keiner gesehen, und Lachen war bei allem Schrecken erlaubt, denn es war doch niemand ernstlich zu Schaden gekommen.
Zu Schaden kam die Familie Grewe, weil der älteste Sohn einen Einfall hatte.
Der war ein netter Junge, dreiundzwanzig Jahre alt, als Franziska achtzehn war, der große Bruder immer und seit jener Zeit besonders, in der er Kugeln hatte pfeifen hören; der wußte, wie das Leben ist, der hatte quer durch die Börde seine Bräute, und zweie hatte er in Berlin, eine in Ost und eine in West; das war alles nicht billig.
Klaus hieß der und war eine ehrliche Haut, soweit es in der Familie blieb. Der fuhr nach Tempelhof, wenn es in Magdeburg keinen Entwickler gab; der kannte den Wechselkurswie den Tabellenstand der Oberliga; dem war Charlottenburg sein Macao: Markt und Abenteuer, Hehlerloch und weite Welt; dem konnte keiner, kein Gemüsebauer und kein Zöllner und nicht einmal die Hirten um den Bahnhof Zoo.
Den Laden in Weißleben wollte er nicht; er lachte, wenn sein Vater von Erbfolge sprach; er wollte ins Große und Freie, Agha Khan fotografieren oder sibirische Mineralogen, Taifune, Zyklone, Diors geheimste Kleider, sowjetische Hunde mit sieben Köpfen, sechs davon aus Kunststoff, Manfred von Ardenne, wie er gerade das Telefon ohne Wählscheibe erfindet, die sozialistische Revolution in Madrid, Lok Magdeburg mit dem Europapokal, den Nordpol und den Titisee im Schwarzwald.
Er war nicht besessen von solchen Träumen, er nahm sie nicht einmal als Träume; es waren Markierungen eines Areals, in das er auszuziehen gedachte, nicht um Millionen zu machen, sondern um eine Arbeit zu tun, die nicht umschrankt war von Weißlebener Brauchtum, den Schönheitsvorstellungen der Bäckermeister und Spargelschieber daselbst und den technischen Grenzen der heimischen Fotochemie. Er stürzte nicht einfach davon, denn er wußte Bescheid: Weder »Paris Match« noch »Time« noch der »Stern« warteten auf ihn, und es zog ihn nicht in eine Bewerberschlange; das hatte er nicht nötig, denn so gesehen, war Weißleben auch kein Dreck; ehe er bei denen betteln ging, retuschierte er hier lieber seine Silberpaare und machte mit
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