Das innere Kind umarmen
Verstand — ein Widerspruch?
In
der heutigen Zeit wird dem Verstand, auch gerne Kopf genannt,
eine starke Rolle eingeräumt. Besucht man Seminare zur Persönlichkeitsbildung,
hört man oft den Satz: »Du bist ein Kopfmensch, du musst mehr auf dein
Bauchgefühl hören.« Man nickt eifrig und stimmt dem Seminarleiter zu. Zu Hause
angekommen, klingt das immer noch sehr stimmig. Aber dann hat einen der Alltag
zurück. Der Chef faltet einem mal wieder zusammen, die Kinder machen, was sie
wollen, usw. Der Rat des Seminarleiters vom Vortag gerät ins Wanken und
schwindet ins Land des Vergessens. Hörte man in dieser Situation auf sein
Bauchgefühl, dann würde man sofort kündigen und die Kinder rausschmeißen. Aber
der Kopf verbietet das. »Sei vernünftig!
Reiß dich zusammen! Du brauchst den Job!« sind Sätze, mit denen man sich
schnell wieder auf den Boden holt. Ein klassisches Beispiel dafür, dass Kopf
und Bauch bzw. Verstand und Gefühl nicht im Einklang miteinander sind.
Alle
Lebewesen, vor allem aber die Menschen, haben Gefühle. Gefühle sind Zustände,
die durch äußere Reize entstehen. Sie können sich jederzeit ändern, wenn der
entsprechende Reiz gegeben wird. Das lässt sich anhand eines Beispiels
wunderbar erklären: Man sitzt im Auto, hört Radio und ist etwas betrübt.
Plötzlich läuft das peppige Lieblingslied und man bekommt schlagartig gute
Laune. Dann klingelt das Handy und der Lebensgefährte, über den man sich
morgens noch geärgert hat, will etwas loswerden. Man wird ärgerlich, und die
gute Laune von zuvor ist mit einem Mal wie weggeblasen. Innerhalb weniger
Augenblicke hat man drei Gemütszustände durchlaufen. Sorgt man selbst für die
entsprechenden Reize, die einem guttun, dann wird die positive Stimmung im
Leben überwiegen. Und genau dazu braucht man den Verstand.
Der
Verstand schöpft aus allen bisher gemachten Erfahrungen. Man kann jederzeit auf
dieses Wissen zurückgreifen. Bleibt man bei dem vorangegangenen Beispiel, so
wären Gefühl und Verstand im Einklang, wenn man nach dem ärgerlichen Telefonat
bewusst eine Lieblingsmusik einlegt, um seine Laune anzuheben. Der Verstand hat
schließlich auch abgespeichert, was an wohltuenden Erfahrungen gemacht wurde.
Das
soll aber nicht bedeuten, dass die Gesellschaft verkopft ist,
sondern lediglich, dass in vielen alltäglichen Situationen die richtige
Reihenfolge nicht eingehalten wird. Das heißt, zuerst sollte immer das Gefühl
überprüft werden, und dann erst kommt der Verstand zum Einsatz. Durch ihn
finden wir den direktesten Weg zum Ziel.
Beide
Instanzen sind also wichtig und brauchen einander. Der Verstand hilft, Gefühle
zum Ausdruck zu bringen. Auf einer Reise mit einem Schiff wäre das Gefühl der
Kompass und der Verstand die Seekarte. Der Körper wäre das Schiff, das innere
Kind der Steuermann, und das Wasser wäre das Leben.
Es
geht also nicht dämm, entweder Kopf oder Bauch zu benutzen, sondern beide in
der richtigen Abfolge einzusetzen.
Versucht
man, Entscheidungen ausschließlich mit dem Verstand zu treffen (»Vernünftig
wäre,...«), so wird es keine gewinnbringende Veränderung geben. Denn der
Verstand kann nur aus bisher gemachten Erfahrungen schöpfen. Er ist nicht in der
Lage, neue Dinge zu begreifen und zu beurteilen, ob etwas eine interessante
Herausforderung wäre oder nicht. Eine gesunde Herangehensweise, bei der Gefühl
und Verstand zusammenarbeiten, könnte folgendermaßen aussehen:
Man
hegt seit langem den Wunsch, Sänger zu werden. Wenn die Vorstellung davon ein
gutes Gefühl in einem auslöst und man sich dazu entschließt, kommt als Nächstes
der Verstand zum Einsatz. Das Ziel ist formuliert, und nun entwickelt der
Verstand Strategien, wie man dieses Ziel am besten erreicht. Wenn man diesen
Weg dann einschlägt, muss man ihn immer, wieder optimieren und die unterwegs
neu gewonnenen Erfahrungen mit einfließen lassen, bis man das Ziel erreicht.
Beide Seiten, also Gefühl und Verstand, stehen auf diese Weise in keinerlei Widerspruch
zueinander, sondern arbeiten Hand in Hand.
Man
kann übrigens auch seinen Verstand erst einsetzen, wenn man sich seiner Gefühle
bewusst ist. Man braucht sie, um das Wissen zu transportieren und um es für
andere sichtbar und begreiflich zu machen.
Das Ego als hilfreiches Potenzial
Viele
Menschen sprechen von dem sogenannten »Ego«. Das Wort ist in aller Munde, aber
kaum einer weiß wirklich, was das tatsächlich bedeutet. Oft wird empfohlen,
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