Das Inselcamp
Das kam aus mindestens zehn Kehlen. Jott verzog den Mund zu seinem langweiligen Lächeln. »Ich möchte absolute Stille«, sagte er. »An den Abenden, in den Nächten und am Morgen. Nur so kann es wirken und sich entwickeln.«
»Was?«, fragte Simone wütend. »Was?«, fragte Johanna weinerlich. »Das Senfkorn«, sagte Philip. »Markus 4«, sagte Tamara. »Ruhe!«, sagte Jott.
In diesem Augenblick – sie standen sich noch immer starr gegenüber, hier Jott mit seiner Fackel, dort die zwölf bei ihrer Rückkehr – kam Judiths Mutter vom Strand her gelaufen. »Gut, dass ihr da seid«, keuchte sie. »Judith, ich muss dich sprechen!«
Die zwölf hielten den Atem an. Lena blieb neben Jott stehen. Judith trat einen Schritt vor. Nur einen. Jott senkte die Fackel und griff sich Lenas Arm. »Frau«, sagte er mit seiner langweiligen Stimme. »Das kann warten. Alles kann warten. Bis es reif ist.«
Er leuchtete in ihr Gesicht, obwohl es hell genug war, dass alle es sehen konnten: Lena war blass und aufgeregt. »Wir haben gerade ein Schweigegelübde vereinbart«, sagte er.
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… dass er diene
Es geschah, wie Diakon Jott es für sinnvoll hielt. Sie hielten sich auch an das Schweigegelübde. Und so kam es, dass die Gruppen ihre Erlebnisse nicht teilen konnten.
Niemand erfuhr vom anderen – und als die Nacht vorbei war, fanden die meisten von ihnen das gut. Wie Jott gesagt hatte: Vieles hatte angefangen. Aber was daraus werden würde, war noch gar nicht abzusehen.
Jotts Segen am nächsten Morgen war stumm. Britt, Pitt und Jacques waren wieder die Ersten. Jott hatte nichts dagegen, dass sie wieder den Weg zum Watt nahmen.
»Gut geschlafen?«, fragte Pitt, sobald sie die erste Düne hinter sich hatten. Eigentlich wollte er nur probieren, ob seine Stimme noch funktionierte. Britt reckte die Arme zum Himmel. »Besser als sonst«, verkündete sie lebhaft. »Ich finde, wir können stolz sein.«
Jacques verdrehte die Augen. Er sah den vergangenen Tag nicht so verklärt. Sie hatten noch ein paar Mal Gepäck von der Fähre geholt und dann hatte der Verwalter des Campingplatzes sie gefragt, ob sie Lust hätten, die Fahrräder zu putzen, die er zum Verleih anbot.
»Mir tun alle Knochen weh«, sagte er. »Was hat denn Fahrradputzen mit Jesus zu tun?« Pitt grinste. Er hatte insgeheim die gleiche Frage.
»Er hat mal gesagt«, entgegnete Britt, »er sei nicht gekommen, um zu sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen.«
Da geschah ein Wunder. »Markus 10«, hörte Pitt, so als ginge Tamara an seiner Seite. Es war aber nicht ihre Stimme. Es war seine.
Sie rafften ihre Gewänder, als sie durch das feuchte Watt gingen, am Zeltplatz vorbei, Richtung Hafen. »Wie gestern?«, fragte Pitt. Britt lächelte ihn an. »Du sprichst mir aus der Seele«, sagte sie süß.
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Einer trage des anderen Last
Jacques hielt es noch aus, bis sie zum Hafen kamen. Als sich Britt jedoch den Fähren näherte und nach Hilfsbedürftigen Ausschau hielt, nahm er Pitt zur Seite. »Verdenk’s mir nicht«, sagte er. »Ich geh surfen.«
Pitt sah zu Britt, die einen Jungen mit Gitarre angesprochen hatte, und nickte langsam: »Nein«, sagte er, »das kann dir niemand verdenken.« Jacques schöpfte Hoffnung. »Kommst du mit?«
Pitt sah wieder zu Britt und glaubte zu hören, dass sie von Jesus sprach, von der Kreuzigung und von Verrat. Er schüttelte den Kopf. »So gern ich will«, sagte er. »Aber es kommt mir falsch vor.«
Er sah Jacques etwas länger an, als er es für gewöhnlich tat. »Weißt du«, fuhr er fort. »Es ist meine Schuld, dass sie hier ist. Ich schätze, ich schulde ihr was.«
Jacques war erleichtert, dass Pitt nicht wieder »Feigling« zu ihm sagte. »Ich geh dann«, sagte er nur. »Um fünf!«, rief Pitt ihm noch nach. »Bei den Fahrrädern.«
Da war Jacques schon mit großen Schritten auf dem Weg zurück zum Campingplatz. Frei, dachte er. Oder nicht? Im Laufen versuchte er, seinen Kittel über den Kopf zu ziehen.
Aber ihm kamen Leute entgegen, der Vater mit dem kleinen Jungen vom Tag zuvor. Wieder ritt der Kleine bei seinem Vater auf den Schultern. »Großer!«, rief er wieder. »Trägst du mich?«
Rasch zerrte Jacques sein Gewand zurecht und probierte ein Lächeln. »Geht nicht«, sagte er. »Wir haben nicht denselben Weg, oder?« Der Vater lächelte zurück. »Wer weiß?«
Er wies auf den Kleinen. »Josch würde liebend gern mit dir an den Strand gehen. Er war sehr
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