Das Inselcamp
Segen
Das Gewitter kam über Nacht und am nächsten Tag regnete es. Und das war noch vorsichtig ausgedrückt. Es schüttet, dachte Pitt, aber er sagte es nicht, weil ja weiterhin das Schweigegebot galt. Mit hochgezogenen Schultern drängten sie sich zum Frühstück im Küchenzelt. Seit Jonas da war und das Kochen übernommen hatte, war Jott gänzlich arbeitslos. Er hatte nur noch das Schweigen zu überwachen.
Lena saß neben Jonas. Sie warf immer wieder Blicke auf den gesenkten Kopf ihrer Tochter. Die saß fern, so fern wie möglich, und sah nicht einmal auf. Dabei hatte sie am Abend zuvor ihren Schlafsack dicht neben Lenas gelegt, wie auch schon in der vergangenen Nacht.
Lena griff sich den dicken Marker, mit dem sie die Einkaufsliste führten. Quer über die Liste schrieb sie: »Jakobsen, du kannst die Kinder heute nicht gehen lassen. Die holen sich den Tod.«
Simone sah es als Erste. Sie stieß Matti an, der neben ihr saß, und Matti Pitt und Pitt Britt und so gelangte die Botschaft schließlich auch an ihren Adressaten.
Jott stand langsam auf, und weil er seine langweilige Stimme schonen musste, ging er zu der Liste und schrieb: »Sie werden aber wollen. Meinen Segen haben sie.«
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Maria aber hörte zu …
Der Sturz war nicht tief gewesen. Das »Hochseil« war nur eine Handbreit über dem Boden gespannt. Aber Maria jammerte und jammerte. Sie wollte sich nicht trösten lassen. »Papa soll kommen! Mama …«
Aber Patrick, der Vater von Maria und Josch, hatte sich für den ganzen Tag verabschiedet. Und Petra, seine Frau, hatte Britt seit ihrer Ankunft überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommen. Seltsam, eigentlich, wenn man darüber nachdachte …
»Hör mal«, sagte Britt. »Stell dich nicht so an! Du musst ja nicht balancieren. Du kannst etwas anderes machen.« Das kleine Mädchen schielte zu Elli hinüber, seiner älteren Freundin. Die war mittendrin.
Am Rand des Campingplatzes gab es ein großes Zelt, das für Regentage zur Verfügung stand. Pitt, Britt und Jacques hatten erklärt, es sei ein Zirkuszelt, und übten mit den Kindern Kunststücke. Alle waren mit Eifer dabei. Nur Maria nicht. Maria hockte am Rand und heulte.
»Und was?« Maria kniff die Augen zusammen. Da kamen noch ein paar Tränen. Britt verlor die Geduld. »Was weiß ich!«, rief sie. »Hol dir ein Buch! Lies!«
Es gab in dem Regenaufenthaltszelt nicht nur Tische und Bänke, sondern auch eine Truhe mit Büchern und Gesellschaftsspielen.
»Als ob ich lesen könnte!« Maria schnaubte. »Du hast ja keine Ahnung!« Britt wandte sich ab. Hab ich auch nicht , lag ihr auf der Zunge.
Sie dachte daran, dass Jakob einen kleinen Bruder hatte, und daran, dass sie sich immer vergebens Geschwister gewünscht hatte.
Sie merkte, dass sie beobachtet wurde. Abseits stand Edwin, der Stotterer, und sah zu ihr hinüber. Er grinste breit und nickte ihr zu. Sie grinste zurück. Die Anerkennung in Edwins Augen tat gut.
»Ich kann ihr vorlesen«, sagte plötzlich eine raue Stimme. Es war Spinne. Ganz in Schwarz diesmal, locker umhüllt, vielleicht um ihre Magerkeit zu verbergen, stand die kranke Frau neben Britt und Maria und hatte ein dünnes Buch in der Hand.
»Kein Babykram«, sagte Maria misstrauisch. Vor lauter Überraschung vergaß sie das Weinen. Spinne verzog die Lippen. Wahrscheinlich war die Grimasse, die dabei entstand, ein Lächeln. »Keine Sorge«, sagte sie. »Das ist kein Kinderbuch.«
Es waren Gedichte. Oder Gebete. Oder beides. Britt wurde nicht schlau daraus, wenn sie ab und zu Worte auffing. Sie klangen leicht und schwer zugleich.
Maria saß und hörte zu. Ringsum rissen Clowns Witze, trompeteten Elefanten, brüllten Löwen, knallten Peitschen. Elli turnte. Maria aber saß und hörte zu. »Orientalische Weisheit«, stand auf dem Buch.
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Gemeinsam einsam
»Wieso habt ihr kein Gemeinschaftshaus?«, fragte Simone. Judith, Matti und sie waren durch den Regen zum Vogelnest hinaufgestapft, weil sie Andi, Tamara und Johanna treffen wollten.
Aber anstatt nun zusammen etwas zu unternehmen, war Gabriel dabei, sie auf die einzelnen Hütten zu verteilen. »Regen bringt Segen«, sagte er lächelnd. »Aber nur, solange er einem nicht in die Schuhe läuft.«
»Zur Einkehr gehört Einsamkeit«, erklärte Rebekka Simone. »Wie willst du dich besinnen, wenn sie neben dir vom Wetter reden?« Tamara dachte darüber nach. Zu Hause war sie nie allein. Auch sonst nicht. Aber trotzdem oft
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