Das Internat
rückte ihn von der Wand. Er war antik und hatte hinten eine Ausbuchtung, die groß genug war, um sich darin zu verstecken. Sobald sie sich darin eingerollt hatte, zog Ivy den Schrank mit den Beinen zurück. Keine der Aufsichtsdamen hatte sie hier jemals gefunden. Nicht einmal ihre Freundinnen wussten von diesem Versteck.
Warum um alles in der Welt fühlte sie sich nur dann sicher, wenn man sie nicht sehen konnte?
Am liebsten hätte sie ihre Sachen gepackt und wäre nach Hause gegangen, aber sie konnte nicht. Ihr Vater würde es niemals erlauben, und er würde niemals etwas Schlechtes über Miss Rowe denken – erst recht nicht, dass die Direktorin einen Mord plante. Diese Vorstellung würde ihn wahrscheinlich amüsieren. Er hatte die Schule nicht nur selbst ausgewählt, er unterstützte sie auch mit großzügigen Spenden. Aber, das war typisch für ihn, er hatte darauf bestanden, dass Ivy sich unter einem anderen Namen einschrieb, damit sie nicht bevorzugt behandelt würde. Sie hatte sich um ein Stipendium bewerben müssen, als käme sie aus einer mittellosen Familie. Nicht einmal Miss Rowe wusste, wer Ivy White wirklich war.
Nein, sie konnte nicht die Schmach auf sich nehmen und nach Hause gehen. Ihr Vater würde sie vermutlich sofort zurückbringen. Er wollte, dass sein Nachwuchs genauso hartgesotten und furchtlos handelte wie er selbst. Ivy sollte ihre Probleme selbst lösen und nicht bei ihm angeheult kommen. Ihr sensibler Charakter hatte ihn immer wütend gemacht, sogar als Ivy noch ein kleines Kind gewesen war. Das Verhalten ihres Vaters erklärte sie sich damit, dass er Angst vor Gefühlen hatte.
Zusammengekauert in ihrer Kuschelecke, dachte Ivy über ihre nahe Zukunft nach. Sie konnte nicht nach Hause gehen. Das hier war ihre letzte Zuflucht.
8. KAPITEL
M attie fluchte leise, als sie versuchte, ihre Teetasse in die Aktentasche zu quetschen. Die Tasche war stark ausgebeult, symptomatisch für die unwillkommenen Veränderungen. Matties wohlgeordnetes Leben war plötzlich aus den Fugen geraten, und das Schlimmste war, dass das Chaos wie aus dem Nichts entstanden war. Die Verhandlung des Entführungsfalls war furchtbar schiefgegangen, und jetzt drohte irgendein übereifriger Krimiautor Pandora zu spielen und eine Büchse zu öffnen, die randvoll mit Dynamit war.
Mattie funkelte die Tasse böse an. "Ich lasse dich hier. Willst du wirklich an einem Ort bleiben, wo das Wasser aus dem Automaten nicht heiß genug ist, um eine anständige Tasse Tee aufzubrühen?"
Eine Tasse zu bedrohen. Krankhaft. Und noch schlimmer, ihr Handy hatte nicht geklingelt. Fast zwei Stunden waren verstrichen, nachdem sie bei Breeze Wheeler und Jane Mantle angerufen hatte. Wenn man die Unterschiede der Zeitzonen in Betracht zog, konnte Mattie es jetzt noch einmal versuchen. Sie musste warten, und in diesem Fall war Geduld keine Tugend. Es war eine verdammte Höllenqual.
Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Fingernägel, bemerkte einen winzigen Nietnagel am Mittelfinger und knabberte selbstvergessen daran. Das entsprach nicht gerade Miss Rowes Standards.
Meine Mädchen meiden das unhöfliche Benehmen, das so viele junge Damen heute an den Tag legen.
Mattie betrachtete wieder die Tasse. Noch würde sie nicht aufgegeben. Ihr Blick fiel auf ihre Handtasche, die an der Garderobe hing. Perfekt. Da passte die Tasse hinein. Nach diesem Entschluss inspizierte sie die Kartons mit den Akten und die gestapelten Recherchematerialien und nahm schließlich den letzten Gegenstand vom Schreibtisch. Die zerknitterte Ausgabe des
San Francisco Chronicle.
Sie stopfte sie ihn die Tasche und schloss sie. Fertig. Den Rest würde Jaydee zusammenpacken und transportieren oder wer auch immer, den er dazu überreden konnte. Als Mattie ihre Handtasche vom Haken nahm und ihre Tasse darin verstaute, fühlte sie die Spannung von sich abfallen. Vielleicht würde sich alles beruhigen, wenn sie erst wieder am Neunten Gericht arbeitete.
Möglicherweise hatte sie wegen des Artikels überreagiert. Die Leute wollten die ganze Zeit irgendwelche Mordfälle neu aufrollen, aber nur bei sehr wenigen hatten sie Erfolg.
Die Gesetzeshüter hatten alle Hände voll zu tun, auch ohne zwanzig Jahre alte Mordfälle wieder hervorzuholen, und die Stadtväter von Tiburon hatten bestimmt kein Interesse daran, dass dieser Fall neu verhandelt würde. Der Mord im Internat hatte sich als wahre Jauchegrube entpuppt. Er hatte alle beschmutzt, die damit in Berührung gekommen waren, von
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