Das Internat
den Schülerinnen über die Fakultät bis hin zur Stadt selbst.
Vielleicht hatte sie tatsächlich überreagiert. Womöglich würde sich alles in Luft auflösen. Und in der Zwischenzeit musste sie sich um Ronald Langstons Berufung kümmern.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie herumfahren. Wer konnte das sein? Jaydee, der sich ein weiteres Mal entschuldigen wollte? "Na, es hat doch nicht wehgetan, oder?", rief sie lächelnd. "Komm rein."
Die Tür öffnete sich, aber der Mann, der eintrat, war nicht Jaydee.
Matties Lächeln verschwand. Ihre Mitarbeiter waren zwar gegangen. Doch sie hatte keine Ahnung, wie er an den Sicherheitskräften vorbeigekommen war. Bundesrichter wurden gut beschützt. Sie konnte den Mann nicht einordnen, aber sein mageres Gesicht und die dunklen Haare kamen ihr vertraut vor. Seine Augen waren eigenartig, so hellgrau, dass sie etwas Stechendes hatten. Sein Regenmantel wogte hin und her wie die Roben eines Richters und beschwor das Bild eines großen Inquisitors herauf.
"Es hat überhaupt nicht wehgetan", sagte er und erwiderte ihren Blick.
Sie hielt ihre Tasche fest und überlegte, dass die Tasse ein gutes Wurfgeschoss abgeben würde. Es gab auch einen Notrufknopf an der Unterseite ihres Schreibtisches, vorausgesetzt, sie gelangte vor dem Fremden dorthin.
"Wie sind Sie hier hereingekommen?", fragte sie ihn.
Er hielt ihr seine Visitenkarte hin, die sie aus der Entfernung nicht lesen konnte.
"Meine Referenzen öffnen mir normalerweise problemlos die Türen", erklärte er.
"Ich meinte
meine
Kammer."
"Ach so ja, offensichtlich dachten alle im Gebäude, Sie wären schon gegangen. Ihre Mitarbeiter sind verschwunden, und sogar der Gerichtsdiener hat sich abgemeldet. Übrigens – sind Sie Richterin Matilda Smith?"
Die Karte hielt er immer noch in der Hand, aber Mattie wollte nicht zu ihm gehen. Vorsichtshalber. Sie hatte reichlich Erfahrung mit Vergewaltigern und Mördern, aber er strahlte nichts Bedrohliches aus. Er hatte auch keinerlei Ähnlichkeit mit einem geflohenen Häftling, der sich rächen wollte. Er war sogar attraktiv, aber genauso unheimlich wie beunruhigend. Kannte sie ihn von irgendwoher?
"Richterin Smith?", wiederholte er.
Seine Stimme klang anders, als sie erwartet hatte, tief und auf seltsame Art melodiös. Schon setzte sie zu einer Antwort an, aber so leicht wollte sie sich nicht einwickeln lassen und sagte nichts. Er wirkte jünger, als sie zunächst angenommen hatte. Vielleicht vierzig, schätzte Mattie und spürte, dass sie es mit jemand extrem Intelligentem zu tun hatte. Alles an ihm strahlte Wachsamkeit aus.
Er entdeckte ihren Namen, der auf der Messingplatte ihrer Aktentasche eingraviert war.
"Euer Ehren", sagte er mit einem Hauch zu viel an Ehrerbietung. "Ich habe ihre Beurteilung über die Berufung im Fall Sunshine Toys gelesen. Sie war brillant. Ich schreibe für das
Chronicle Magazine,
und ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen."
Er steckte seine Visitenkarte ein. Offensichtlich hatte er es aufgegeben, sie ihr zu überreichen. Das besagte Magazin war eine Beilage in der Sonntagsausgabe der Zeitung. Darin ging es fast ausschließlich um die Menschen der Bay Area. Ein Zufall, dass er nach dem Artikel heute Morgen hier war? Mattie hätte es gern geglaubt.
"Über Sunshine?", sagte sie. "Der Fall ist doch schon seit Monaten erledigt."
"Über Sie, Matilda Smith, die Frau."
Mattie hatte zu tief und zu plötzlich eingeatmet. Sie verschluckte sich fast. "Tut mir leid, Ihr Timing ist leider sehr schlecht. Wie Sie sehen, bin ich zwar noch nicht ganz verschwunden, aber fast."
"Ich hätte um einen Termin gebeten, aber ich hatte so eine Ahnung, dass Sie ablehnen würden."
"Sie sollten auf Ihre Vorahnungen hören."
"Das tue ich auch. Als ich heute Morgen aufwachte, fühlte ich, dass ich heute Glück haben würde. Und hier bin ich."
"Hören Sie, ich muss heute noch viel zu Ende bringen."
Er warf einen Blick auf die Kartons. "Wo sollen die denn hin? Ich habe einen Van. Ich kann Sie überall hinbringen."
"Vielen Dank, aber ich bin noch nicht fertig mit dem Packen."
"Sie sind wirklich eine harte Nuss. Okay, ich helfe Ihnen dabei."
Er streckte erwartungsvoll eine Hand aus, die sie ignorierte. Ein neunmalkluger Reporter. Genau das, was ihr heute noch gefehlt hatte. Seine Schlagfertigkeit betrachtete er wahrscheinlich als großen Vorteil. Mattie war kurz davor, ihm von dem Notrufknopf zu erzählen, als sie etwas bemerkte. Nicht seine Augenfarbe war stechend. Es war sein
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