Das Internat
sie unterstellte, dass die Puppen die natürlichen Konturen eines Frauenkörpers verzerrten – in einer gar nicht positiven und gesunden Weise verzerrten. So hätte man jungen, leicht zu beeinflussenden Mädchen mehr Schaden zugefügt, als die Arbeit des Künstlers jemals hätte anrichten können.
"Es hat Spaß gemacht, das Gutachten zu schreiben", gab Mattie zu.
"Natürlich", sagte er, "das Thema hat Ihnen offenbar gefallen."
Mattie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, er auch nicht.
"Warum sollte das etwas damit zu tun haben?", fragte sie.
"Keine Ahnung."
Sie wies ihn nicht darauf hin, dass sie weitaus kontroversere Urteile verfasst hatte. Aber es war ein gutes Beispiel für ihre Arbeit, und Matties Gutachten hatte ein großes Medienecho hervorgerufen. Es bestätigte die Vermutung, dass Matilda Smith nicht so sehr auf juristische Spitzfindigkeiten erpicht war – oder sogar auf die Rechtsprechung an sich –, sondern auf die Wahrheitsfindung, egal wie schwer definierbar und widersprüchlich dies im Einzelfall sein konnte.
Mattie war stolz auf ihre Arbeit. Sie glaubte, dass das Recht oft dem Höchstbietenden zufiel. Manche Staatsanwälte waren meisterhafte Zauberkünstler, aber Mattie glaubte auch, dass die Wahrheit niemanden bevorzugte. Es musste nur jemanden geben, der penibel nach ihr suchte. Und dieser Jemand versuchte Mattie zu sein.
"Was machen Sie da?", fragte sie.
Er war aufgestanden und hatte einen Stapel mit Papierkram bemerkt, unter dem sich auch eine zerfledderte Handlese-Karte befand. Sie stellte die menschliche Handinnenfläche dar, ihre zahlreichen Linien und ihre Bedeutungen. Die Karte hatte mal ihrer Mutter gehört. Mattie war überrascht gewesen, als sie sie zusammengefaltet in einem Seitenfach ihrer Aktentasche gefunden hatte. Wie die Anleitung dort hingelangt war oder warum sie sie mit sich herumtrug, wusste Mattie nicht. Bestimmt nicht aus sentimentalen Gründen.
"Handlesen?"
Lesen nicht alle heißen lesbischen Richterinnen aus der Hand?
"Eine meiner vielen sinnlosen Fähigkeiten", sagte sie.
"Die meisten Richter haben Gerichtsakten auf ihrem Tisch liegen."
"Ich dachte, wir wären uns beide einig, dass ich nicht wie die meisten Richter bin."
"Richtig." Seine Stimme klang plötzlich bedeutungsschwer, und er bewegte sich langsam auf Mattie zu. "Können wir reden, Euer Ehren? Ist das möglich? Ich glaube nämlich, dass Sie etwas zu sagen haben, was die Menschen interessieren würde."
"Ja." Mattie sagte das eigentlich nur, um ihn sich vom Leib zu halten. Ganz offensichtlich war es ihm gelungen, ihren Widerstand zu brechen. Oder die Neugier trieb sie an. "Was möchten Sie wissen?"
"Alles, was Sie mir erzählen möchten. Lassen Sie uns mit Ihrer Vergangenheit – der nahen oder der länger zurückliegenden – anfangen, beides würde mich interessieren."
"Die nähere. Alles, was länger als zehn Jahre her ist, entzieht sich meiner Erinnerung."
"Wie Sie möchten." Er warf einen Blick auf den Sessel, den er gerade verlassen hatte, so als ob er diesmal auf eine Einladung wartete. Seine guten Manieren erstaunten Mattie. Sie nickte ihm zu und bemerkte, wie er gleichzeitig den Blick über ihren Körper schweifen ließ.
"Stimmen die Gerüchte, dass sie eine schusssichere Weste tragen?"
Sie zeigte mit der Hand auf ihre Kleidung. "Sieht das für Sie wie eine kugelsichere Weste aus?"
"Für mich sieht das gut aus."
Fast errötete sie. Jaydee hätte das sicher amüsiert, zum Glück war er schon gegangen.
Sie wechselte das Thema. "Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas zu trinken anbieten, aber wie Sie sehen, befinde ich mich im Aufbruch und …"
"Ich brauche nichts, danke." Er rutschte tiefer in den Sessel, der bei seiner ungewöhnlichen Größe nicht ausreichend Platz bot. "Erzählen Sie mir, wie Sie eine der jüngsten Bundesberufungsrichterinnen wurden. Das ist eine große Ehre."
"Nun, ich wurde berufen und dann ernannt. Ich bin mir sicher, dass es ihnen allen jetzt sehr leid tut."
"Sie sind zu bescheiden", sagte er mit einem trockenen Tonfall. "Ihre Erfolge sind beeindruckend. Sie haben sich sowohl als Verteidigerin als auch als Staatsanwältin profiliert. Wer erinnert sich nicht an diese stillende Mutter mit den großen Augen, die Sie gegen die Klage des Transportunternehmens wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verteidigt haben; oder an den Drogenkönig, den sie eingebuchtet haben. Das Volk gegen Victor Trabuco, nicht wahr? Das war ein starkes Schlussplädoyer."
Sie dankte
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