Das Internat
wenn er eine Bedrohung für den wahren Mörder darstellte, konnte das sein Verderben gewesen sein. Das ergab einen Sinn.
Jameson goss sich einen Becher tiefschwarzen Kaffee ein und ging zurück ins Wohnzimmer. Glücklicherweise hatten ihn die Polizeibeamten nicht erkannt, deshalb hatte er ihnen seinen echten Namen genannt, James Broud – und nicht das Pseudonym, unter dem er bekannt war. Billys Tod würde in die Schlagzeilen geraten, und Jameson wollte in diesem Zusammenhang und zu diesem Zeitpunkt nicht im Scheinwerferlicht stehen. Er hatte die Polizei auch über die Beziehung zu seinem Bruder belogen und behauptet, dass sie ein enges Verhältnis gehabt hätten.
Nachdem er den Papierkram erledigt hatte, musste er entscheiden, was mit den Überresten seines Bruders geschehen sollte. Anschließend war er in eine überfüllte, laute Kneipe gegangen, wo ein großes Tennisspiel übertragen wurde. Dort hatte er so lange Bier getrunken, bis ihn der Gedanke an den Heimweg nicht mehr verzweifeln ließ.
Stille. Er konnte sie nicht ertragen. Diese Stille erinnerte ihn an seinen verlorenen Bruder und an all die Jahre, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen … die eine Ewigkeit
waren,
jetzt, da Billy nicht mehr zurückkommen würde.
Mitten im Wohnzimmer stand er zwischen glatten, armlosen Lederliegen und Bänken. Einige Sekunden lang hielt er nur den heißen Kaffee fest in der Hand. Erst als die Haut zu heiß wurde, meldete sich sein Nervensystem und schaltete um. Der Überlebenstrieb wahrscheinlich. Das Leid überkam ihn auf einmal, überwältigend und machtvoll wie ein Tsunami. Wenn er es zuließe, würde er überschwemmt und ganz nach unten gezogen werden.
Dann fiel ihm der Umschlag wieder ein. Jameson drehte ihn mit dem Fuß um und warf einen Blick auf den Absender. Das "Excelsior"? Er stellte den Becher ab, griff nach dem Umschlag und riss ihn auf. Einige Papierschnipsel und etwas Stoff fielen ihm entgegen.
Der Umschlag war voller Papierfetzen, vielleicht Hunderte, auf die mit etwas geschrieben war, das wie rote Tinte aussah. Blut? Jameson erkannte Stücke einer zerrissenen Papiertüte, die mit einem scharfen Objekt beschrieben waren, aber er konnte es lesen. Auf einigen konnte er die Unterschrift seines Bruders ausmachen.
Hatte Billy ihm das geschickt?
Jameson überprüfte den Poststempel. Es war am selben Tag losgeschickt worden, an dem Billy die Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte – gestern. Im Dämmerlicht setzte sich Jameson auf den Fußboden und versuchte, die Schnipsel zu ordnen. Was er las, wirkte auf ihn wie Auszüge aus Billys Qualen im Gefängnis. Er konnte keine Ordnung erkennen, aber genauso unmöglich war es ihm, die Notizen wegzulegen. Er verschlang die Schnipsel geradezu, besessen von dem Wunsch, herauszufinden, was sein Bruder zu sagen hatte. Der Magen zog sich ihm zusammen, als er las; er brannte vor Neugier und Furcht.
Auf jeden Fetzen hatte Billy ein paar kryptische Worte gekritzelt, vielleicht, um die Bedeutung absichtlich unkenntlich zu machen, für den Fall, dass die Notizen gefunden werden sollten. Aber Jameson bemerkte das Wort "hereingelegt" auf fast jedem Schnipsel und nahm an, dass das der Kern von Billys Anstrengungen war. Er erklärte seine Unschuld und wollte enthüllen, wer ihm das angetan hatte.
Etwa ein Drittel der Notizen hatte Nummern, ein Viertel trug ein Datum, und der Rest war komplett ungeordnet. Es schien, als habe Billy mit einer Methode angefangen und sei dann zu einer anderen gewechselt, die ihm einfacher schien, um seine Eintragungen zu sortieren.
Als Jameson begann, alles chronologisch zu sortieren, erkannte er eine bestimmte Ordnung. Jedes Papierstückchen trug das Wort "hereingelegt", aber es waren die anderen Worte, die ihn fesselten.
Hab sie nicht getötet.
Sie haben sie gehasst. Sie waren es.
Krank bis in die Seele. Geheimnisse.
Augen wie Äther. Haar wie Feuer. Kalt wie Stein.
Kleines blondes Biest.
Finde die Mädchen. Sie waren es.
Konnte sie nicht schützen.
VIPs. Hohe Tiere, alle.
Videobänder. Eines fehlt.
Vergiftet.
Todesdrohungen. Jeden Tag!
Hereingelegt!
Meinen Bruder töten. Kann ich nicht zulassen.
Schweige.
Schütze ihn.
Jameson las weiter, aber seine Gedanken waren bei den Todesdrohungen hängen geblieben. Billy war bedroht worden? Das würde sein langes Schweigen erklären. Aber es klang, als hätte nicht Billy unmittelbar Gefahr gedroht. Gütiger Himmel, sein Bruder hatte ihn beschützt. Jameson konnte das kaum
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