Das irische Erbe
empfindlich.«
Es ging besser als erwartet. Die Stute kam gleich zu ihr, schnupperte und ließ sich das Halfter überziehen.
»So, jetzt mach die Tür weit auf und geh vorsichtig vor ihr her.«
Sie trat auf die Stallgasse und wollte sich nach dem Tier umsehen, aber die Stute folgte ihr schon bereitwillig.
Tim blieb auf dem Hof stehen und nickte ihr zu.
»Auf welche Weide soll sie denn?«, fragte sie und war entzückt, als das Tier auf ihre Höhe kam und mit nickendem Kopf neben ihr her ging.
»Da vorne.«
Tim lief zur Weide, zog die beiden Balken aus den Halterungen und trat zurück.
»Jetzt pass auf. Wenn du auf der Weide bist, lässt du sie nicht los, sondern drehst sie mit dem Kopf zum Eingang, als wolltest du wieder hinausgehen. Und dann lässt du sie ruhig stehen.«
»Und warum?«, fragte sie.
»Weil sie vor lauter Freunde einen Riesensatz machen und dabei hinten ausschlagen könnte. Ist schon oft passiert. Sogar Nina wäre einmal um ein Haar getroffen worden.«
Sie verstand und folgte gehorsam seinen Anweisungen.
Samira blieb artig stehen. Sie streichelte über ihre Nüstern und bekam zur Belohnung ein sanftes Schnauben zu hören.
»Jetzt kannst du das Halfter abnehmen. Und dann gehst du einen Schritt zurück und kommst neben mich.«
Sie tat wie geheißen.
Die Stute wieherte leise, senkte den Kopf zu Boden, sah wieder auf und trottete los.
»Na, sehr munter ist sie aber nicht«, sagte Tim. Als wolle sie seine Worte Lügen strafen, sprang das Tier aus dem Stand in Galopp und raste los.
Claire stand neben Tim, die Unterarme auf der obersten Holzlatte. Samira drehte einige Runden im Galopp, fiel dann in Trab und tänzelte.
»Was macht sie da?«, fragte Claire.
Tim grinste. »Sie will uns zeigen, dass sie auch schöne Bewegungen hat. Das hat der Verkäufer auch gesagt. War also nicht gelogen.«
»Warum sollte er lügen?«, fragte sie erstaunt.
Tim grinste. »Ach, es ist ein dummes Vorurteil, dass Pferdehändler nicht immer ganz ehrlich sind.«
Es dämmerte, Claire war hoch in ihr Zimmer gegangen und hatte gesagt, sie wolle früh zu Bett. Aber das stimmte nicht. Sie wollte in Ruhe in dem Tagebuch lesen. Sie knipste die Stehlampe an, schob den Sessel unter das Licht und setzte sich mit hochgezogenen Beinen hin.
Die ersten Sätze zeigten eine depressive Frau, die Irland nicht mochte und die vor Heimweh nach Deutschland todunglücklich war. Sie schrieb, nicht einmal ihre beiden Kinder wären ihr ein Trost, Patrick, das war sicher ihr Mann, habe nach dem Vorfall im Morgengrauen kein Wort darüber verloren und sie habe sich nicht getraut, ihn zu fragen.
»Aber das ist nicht das Schlimmste«, schrieb sie. »Sein Laster macht mich fertig, ich weiß, dass ich das auf Dauer nicht ertrage. Patrick hat mir einen Hund geschenkt, einen Dalmatiner, aber das Tier ist krank und belastet mich nur noch zusätzlich. Er hat ihn mir wahrscheinlich nur deshalb gegeben, damit ich noch mehr angebunden bin.« Sie beschrieb dann das Haus, in dem es unerträglich ziehe, vor allem bei Sturm, den es oft gebe. »Ich hasse die Stürme, die mich mit eingezogenem Kopf im Sessel sitzen lassen, alles ist laut und brausend, und ich wandere durch das Haus, vorbei an den bunten Fenstern und fühle mich wie in einer Kirche.« Einige Wochen später schrieb sie, ihr Mann sei wieder einmal die ganze Nacht weggewesen und erst am Morgen zurückgekommen. »Am liebsten würde ich seinen Vater anrufen, aber ich weiß, dass das zwecklos ist. Er hasst mich und gibt mir die Schuld an allem. Bei unserer Hochzeit sagte er, Maureen, du wirst ihn ins Verderben stürzen. Ich werde diese Worte nie vergessen.«
Maureen also.
Sie beschrieb ihre Kinder, den sensiblen Sohn, der so ruhig sei wie sie auch, alles stumm ertrage und oft in Tränen ausbreche. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er jemals erwachsen wird. Er hängt an meinem Rockzipfel, will immer getragen werden. Patrick ist liebevoll zu ihm und geduldig, wo ich ungeduldig und oft barsch bin. Ich bin eben mehr Frau als Mutter. Wie hätte ich das wissen können?«
Die Tochter sei ganz anders, sie komme mehr auf den Vater und würde sicher ihren Weg machen. Beide würden schon ganz gut Irisch sprechen und ein wenig Englisch.
Claire runzelte die Stirn. Ihr fiel jetzt erst auf, dass das Tagebuch in Deutsch verfasst war. Wahrscheinlich war Maureen eine Deutsche. Seltsam, ihr Name war typisch irisch. So wie der ihres Mannes auch. Maureen schrieb weiter, sie habe eine › Vogue ‹ vom
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