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Das Isaac-Quartett

Das Isaac-Quartett

Titel: Das Isaac-Quartett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jerome Charyn
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passiert?«
    »Nichts, Euer Ehren«, antwortete der alte Penner. »Sind nur die Klamotten, die ich trage.«
    »Du hast mir aber einen Schrecken eingejagt«, sagte der Bürgermeister. »Wir müssen dich aufpäppeln.«
    Seine eigenen Berater schimpften ihn einen altersschwachen Trottel. Der gehört doch in ein Heim, sagten sie. Der uralte Sam. Aber er hatte keinerlei Schwierigkeiten, den alten Penner zu erkennen. Der Bürgermeister war so klar im Kopf, wie ein Mann im Schlafanzug nur sein kann. Es lag nicht an schwindendem Verstand, der ihn aus seinem Amtssitz getrieben hatte. Es war ein Angstschub. Die politische Welt rings um ihn her wurde immer kleiner. Die meisten seiner Stellvertreter hatten Sammy Dunne im Stich gelassen. Er war ein Bürgermeister ohne Partei im Rücken. Er war in der City of New York zu einem Geist geworden. Man sprach nicht mehr vom Bürgermeister Sam.
    Er weinte immer noch um den alten Penner.
    »Isaac, ich kenne deine Feinde. Wenn ich weg bin, werden sie dich bei lebendigem Leibe fressen.«
    »Sollen sie, Euer Ehren. Da gibt’s noch ’ne Menge zu holen.«
    »Ach Jungchen, was redest du da? Du bist doch nur noch Haut und Knochen.«
    Der alte Penner war in Gedanken bei Annie Powell. Diese Narbe ließ ihn nicht mehr los. Annies D. Er brachte den Bürgermeister zurück zur Gracie Mansion und verschwand selbst wieder in seinem namenlosen Hotel.
3
    Warum sollte ihm ausgerechnet eine Nutte den Kopf verdreht haben, eine Bordsteinschwalbe mit verdorbener Ware? Bei dieser Narbe im Gesicht konnte es ihr kaum besonders gut ergangen sein. Der Wurm fraß an ihm. »Arschloch«, sagte er zu dem Wurm, »hast du dich etwa auch in sie verliebt?« Er schlenderte immer wieder zur Dreiundvierzigsten hinüber, um sich zu vergewissern, dass niemand sie belästigte. Sein Herumgeschlurfe mit den Händen in den Taschen gefiel Annie Powell überhaupt nicht. Viele Freier fand sie bestimmt nicht, solange sich in der Nähe ein alter Penner herumdrückte. »Wir essen jetzt zu Mittag«, sagte er. »Komm.« Es klang wie eine Drohung, fand sie, nicht wie eine Einladung. Und sie musste ihre Straßenecke verlassen.
    Diesmal führte er sie ins Café des Sports. Ein Penner und ein Mädchen im Nuttenoutfit, die Leberpastete aßen. »Annie«, sagte er, »um zwei wird es eine Razzia geben. Der Commissioner hat beschlossen, alleinstehende Frauen von der Straße zu holen. Am besten machst du eine ganz, ganz lange Mittagspause.«
    Sie teilten sich drei Flaschen Wein. »Wie heißt du eigentlich?«, knurrte sie angetrunken. »Und was zum Teufel willst du von mir?«
    »Nenn mich einfach Father Isaac.«
    »Ein Priester«, sagte sie und äffte ihn nach, »ein Priester ohne Bäffchen … In dein Hotel oder in meins, Father Isaac? … In fremden Hotels bin ich besser.«
    »Du bluffst mich nicht, Annie Powell. Du hast noch nicht allzu viele Kunden gehabt … Ich will wissen, wer dich auf den Strich geschickt hat.«
    »Mister«, sagte sie, »das geht dich überhaupt nichts an.«
    Der alte Penner musste sie gehen lassen. Der Wurm grub sich in seine Gedärme, als er daran dachte, wie sie mit anderen Männern in Hauseingängen verschwand und sich vor sie kniete. Er musste diesen Martin McBride finden und ihm auf seine irischen Zehen steigen. Aber Father Isaac hatte heute eine Verabredung. Er wusch sich den Dreck vom Hals. Er rasierte sich die Haare unter der Nase, die man schon für einen schief gewachsenen Schnurrbart hätte halten können. Er kaufte sich eine halbe Stunde in der einzigen Badewanne des Hotels. Er war nicht wiederzuerkennen, als er aus der Wanne stieg. Der alte Penner hatte zwanzig Jahre abgeschüttelt. Er hatte ein Paar Argyle-Socken auf seinem Zimmer. Er packte den einzigen Anzug aus, den er im Schrank hängen hatte. Aus der Kommode tauchte ein Seidenhemd auf. Eine Krawatte von Bloomingdale’s. Unterwäsche, die selbst für Frauenhaut weich genug war. Alles aufeinander abgestimmt. Ein jüngerer Mann, fünfzig, einundfünfzig Jahre, trat aus dem Hotel.
    Er hatte das gewisse Etwas. Der Wurm hatte dazu beigetragen, seine Gesichtszüge neu zu definieren. Er verlieh ihm Charakter und kleine Wangengrübchen.
    Ein Taxi brachte ihn zu einem Vortragssaal in der New School for Social Research. Leute schüttelten ihm die Hand. Hier wurde er eher verachtet als verehrt, doch alle kannten ihn. Isaac Sidel, First Deputy Police Commissioner of New York, der mysteriöse Cop. Er neigte dazu, unterzutauchen, eine Verkleidung nach der anderen zu

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