Das Jahr auf dem Lande
erzählt. Aber da sagte Vater: >Ja, nimm sie mit. Wenn sie in deiner Obhut ist, kann sie wenigstens keine Dummheiten machen.< Da wurde ich so wütend, daß ich doch den Mund hielt.«
»Und was ist mit dem armen Vetter Lester, der deine Eltern ja schließlich auch hintergeht?« fragte er.
»Er muß sich miserabel fühlen«, sagte Jo, »und deshalb ist seine selbstlose Tat um so höher einzuschätzen.«
»Glauben Sie ja nicht, daß Sie meinen Segen haben! Ich bin nicht so skrupellos wie Sie. Ich komme mit, weil Beth meine Kusine ist und ich sie in dieser bedeutsamen Stunde nicht im Stich lassen will.«
»Der Protest wird zur Kenntnis genommen«, erwiderte Jo. »Und wenn Sie nach Rangimarie zurückfahren und Beths Eltern und der alten Dame erzählen, daß Sie bei Beths Hochzeit waren, wird es Ihnen sicher helfen, daß Sie nur unter Protest als Trauzeuge fungiert haben.«
»Sie machen mir richtig Angst«, sagte Lester mit entnervendem Grinsen. »Und wenn Sie jetzt nicht den Mund halten, lenke ich den Wagen über diese Böschung, und dann wird doch nichts aus der Hochzeit.«
»An Ihrer Stelle wäre mir ein kleiner Unfall noch lieber als der Zorn der Familie Holden.« Doch dann fügte sie mit ernster Stimme hinzu: »Trotz allem — es war sehr nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind.«
»Ersparen Sie mir eine Dankesrede! Ich kam, weil ich kommen mußte. Wenn man den Feind nicht besiegen kann, muß man sich auf seine Seite schlagen — und so weiter. Und jetzt wollen wir endlich still sein und uns innerlich auf den feierlichen Augenblick vorbereiten.«
Jo lachte und dachte, daß sie Lester wirklich falsch beurteilt hatte.
Sie fuhren rasch dahin, und die Braut wurde immer nervöser, was sich in gelegentlichen tiefen Seufzern äußerte. Lester legte immer wieder beruhigend eine Hand auf ihren Arm, und einmal sagte er: »Kopf hoch, Kleines! Deine Eltern werden schon zur Vernunft kommen. Spätestens in drei Monaten werden sie herausgefunden haben, was für ein großartiger Bursche Craig ist, und froh sein, daß du ihn geheiratet hast.«
»Aber bis es erst einmal soweit ist, Lester... Und diese schreckliche Lage, in die ich dich gebracht habe...«
»So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Die Leute in Rangimarie haben alle großes Mitleid mit mir, weil meine Eltern in die Stadt ziehen und ich ganz allein in dem großen Haus leben und die Farm bewirtschaften muß, also werden sie nicht allzu hart mit mir ins Gericht gehen. Natürlich wird es zuerst einigen Wirbel geben, aber damit werde ich schon fertig, und ich werde auch deine Sachen aus dem Haus holen.«
»Nein, das mache ich«, mischte sich Jo ein. »Ich habe Beth versprochen, ihre Sachen zu holen, und ich will den Holdens auch sagen, daß meine Familie nichts mit der ganzen Sache zu tun hatte. Ich werde mein Geständnis machen, aber nicht um Gnade flehen.«
Lester riet ihr, erst ein paar Tage verstreichen zu lassen, damit sich die Familie von dem Schock erholen konnte. Jo lachte. »Mir ist es egal, was sie denken oder sagen. Werden sie mir die Tür vor der Nase zuschlagen oder mich in eisigem Schweigen empfangen?«
»Weder noch. Seien Sie nicht so dramatisch! Natürlich werden sie wütend sein, und das haben Sie auch verdient.«
7
C raig stand, wie Lester vorausgesagt hatte, auf den Stufen vor dem Standesamt und umklammerte nervös die Heiratslizenz. Jo sah belustigt, wie sein Kiefer herunterklappte, als er sah, wer am Steuer des Wagens saß. Doch dann sagte er einigermaßen gefaßt: »Nett, daß du gekommen bist, Lester«, nahm Beths zitternden Arm und führte sie fürsorglich die Treppe hinauf, als wäre sie eine gebrechliche alte Dame und keine junge Braut auf dem Weg zum Standesbeamten.
Jo begrüßte ihn hastig und fragte: »Hat man dich nicht gefragt, warum eure Eltern nicht hier sind?«
»Nein, der Beamte ist neu hier, und er kennt uns nicht, dem Himmel sei Dank. Ich bin so froh, daß Lester da ist.«
»Du warst ziemlich erstaunt, als du ihn gesehen hast. Ich dachte, du kennst ihn so gut, also dürfte es dich doch gar nicht so überraschen, daß er euer Trauzeuge sein will.«
»Natürlich kenne ich ihn gut, aber ich hätte nicht gedacht, daß er so aktiv in Erscheinung treten würde.«
Lester hatte zugehört und bemerkte trocken: »Ich mußte mich doch vergewissern, daß sie den Richtigen heiratet — und nun sehe ich, daß sie genau das tut.«
Inzwischen hatten sie die kleine Amtsstube betreten. Lester kannte den Standesbeamten, und
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