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Das Jahr auf dem Lande

Das Jahr auf dem Lande

Titel: Das Jahr auf dem Lande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Scott
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war dazu überredet worden, seine Mutterschafe und Lämmer zu verlassen. Er hatte dies auf besonderen Wunsch der alten Mrs. Holden getan, die nicht auf die Gesellschaft dieses »außergewöhnlichen jungen Mannes« verzichten wollte. Nun unterhielten sie sich über die Grippewelle, lachten über deren humorvolle Aspekte, und sogar James Holden rang sich gelegentlich ein Schmunzeln ab. Es war ein wunderbarer Vorfrühlingstag, den man nach einer nassen, trüben Woche besonders genoß, und bald zerstreute sich die Teegesellschaft. Lester und Jo gingen hinaus, um sich das junge Pferd anzusehen, das Lester kaufen wollte. Beth und Craig, der nun von der Familie akzeptiert worden war, allerdings ohne große Begeisterung von seiten James Holdens, entschuldigten sich und fuhren erleichtert nach Hause. Robert blieb bei Mrs. Holden sitzen und hörte sich einen Bericht aus ihren Jugendtagen im England König Edwards an. »Damals hatten wir natürlich viel Personal, das uns ein angenehmes Leben ermöglicht hat«, sagte die alte Dame. »Es waren friedliche Tage, ohne große Aufregungen, wie man sie heutzutage erlebt...«
    Doch in diesem Augenblick gab es auch schon Grund zur Aufregung, den einzigen Grund, der Mrs. Holden aus der Fassung bringen konnte. Das Zimmer begann zu schwanken, erst sanft, dann in beschleunigtem Rhythmus. »Ein Erdbeben«, sagte Robert. »Wird allmählich langweilig, aber wir müssen es eben durchstehen.«
    Sie waren allein im Salon. Die Gesellschaft hatte sich allmählich aufgelöst. James Holden hatte sich als letzter und ziemlich hastig empfohlen, nachdem er das erste Zittern verspürt hatte. Er zog es vor, Erdbeben unter freiem Himmel über sich ergehen zu lassen.
    Die alte Mrs. Holden begann am ganzen Körper zu beben, aber sie sagte: »Es ist wohl nicht nötig, das Haus zu verlassen. Cynthia hat bestimmt das kostbare Geschirr genügend gesichert, so daß es nicht zerbrechen kann. Oh, schon wieder...« Sie richtete sich kerzengerade auf und versuchte, ihre Angst nicht zu zeigen.
    Robert wußte nicht recht, was er tun sollte. Wenn Mrs. Holden nun plötzlich einen Herzanfall bekam... Am liebsten hätte er die alte Dame gepackt und sie in den Garten getragen, wo sie nicht zu befürchten brauchte, daß ihr die Decke auf den Kopf fiel. Wenn diese Befürchtung auch grundlos war. Das Haus war fest gebaut, und er hatte nur Angst um Mrs. Holdens Seelenleben. Sicher litt sie namenlose Qualen, wenn sie die Erdstöße in diesem beengten Raum zu spüren bekam. Immerhin war ihre Schwester bei jener Erdbebenkatastrophe unter den Trümmern eines Hauses begraben worden. Aber er wagte es natürlich nicht, die alte Dame gegen ihren Willen ins Freie zu befördern. Er konnte sich nur tröstend an ihre Seite stellen. Den Arm um ihre Schultern zu legen — das wäre sicher zuviel des Guten gewesen. »Es ist ein schweres Erdbeben«, sagte er, »aber es ist sicher bald vorbei.«
    Doch da irrte er sich. Die Erdstöße hielten an, in der Küche klirrten die Töpfe, und plötzlich erhob sich die alte Dame. »Jetzt ist es aber genug«, sagte sie wie zu einem Kind, das schon zu viele Bonbons gegessen hat. »Bitte, lieber Gott, jetzt ist es genug.«
    Robert war zutiefst verwirrt und fragte sich, ob er sich nicht davonschleichen und Mrs. Holden mit dem lieben Gott allein lassen sollte. Aber das wäre denn doch zu feige gewesen, und so lauschte er beim nächsten Erdstoß erstaunt und auch leicht belustigt einem weiteren Gebet der alten Dame. »Lieber Gott, ich habe dich in aller Demut ersucht, dieses Erdbeben zu beenden.« Aber Gott hörte auch auf dieses Gebet nicht und gab auch nicht die nötigen Befehle, was nun Mrs. Holden übernahm. »Schluß jetzt!« befahl sie mit Stentorstimme. »Schluß, habe ich gesagt! Sofort!«
    Sie stand mitten im Raum, auf ihren Stock gestützt, und starrte herausfordernd zur Decke empor. »Jetzt reicht es aber!« rief sie in einem Ton, als ermahne sie ein ungezogenes Kind zum Gehorsam. Ihr Blick war jetzt nicht mehr ängstlich, sondern streng. Und seltsamerweise ließ das Erdbeben tatsächlich nach, die Welt beruhigte sich allmählich wieder. Mrs. Holden schien in die Wirklichkeit zurückzukehren. Würdevoll ließ sie sich nieder, und plötzlich merkte sie, daß Robert noch immer im Salon stand. Sie errötete nicht. Wahrscheinlich war sie seit vierzig Jahren nicht mehr errötet. Aber sie sagte mit einer Stimme, die ein wenig zitterte: »Wie konnte ich mich nur so dumm benehmen! In Zukunft muß ich mich

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