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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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CorpSeCorps-Frauen schnüffelten bei ihm im Haus herum und stellten ihm lauter blöde Fragen. Aber das Schlimmste daran war, dass Jimmys Mutter auch Killer mitgenommen hatte, um sie in freier Wildbahn auszusetzen − sie hatte ihm einen Zettel hinterlassen, auf dem das stand. Nur dass die freie Wildbahn genau das Falsche war für Killer, weil sie von den Luchskätzchen gefressen werden würde.
    »Ach, Jimmy«, sagte ich. »Wie schrecklich.« Ich nahm ihn in den Arm: Er weinte. Ich fing auch an zu weinen, und wir streichelten uns vorsichtig, als hätten wir beide einen gebrochenen Arm oder eine Krankheit, und dann ließen wir uns sanft in mein Bett gleiten, aneinandergeklammert wie zwei Ertrinkende, und fingen an, uns zu küssen. Es war wie ein Feiertag damals bei den Gärtnern, wo alles auf besondere Weise gemacht wurde, weil es zu Ehren einer bestimmten Sache war. Und genauso war das hier: zu Ehren.
    »Ich will dir nicht wehtun«, sagte Jimmy.
    Ach, Jimmy, dachte ich. Lass dich in Licht tauchen.
     
    42.
     
    Nach diesem ersten Mal war ich sehr glücklich, als würde ich singen. Kein Klagegesang, eher ein Vogelgesang. Ich war wahnsinnig gern mit Jimmy im Bett, ich fühlte mich so geborgen in seinen Armen, und es war unglaublich, wie glatt und seidig sich Haut an Haut anfühlen konnte. Der Körper hat eine innere Weisheit, sagte Adam Eins immer: Das meinte er damals in Bezug auf unser Immunsystem, aber es stimmte auch in anderer Hinsicht. Diese Weisheit war nicht nur Gesang, sie war wie ein Tanz, nur schöner. Ich war verliebt in Jimmy und musste einfach glauben, dass Jimmy genauso verliebt war in mich.
    JIMMY, schrieb ich in mein Tagebuch. Ich unterstrich den Namen mit Rotstift und malte ein rotes Herz daneben. Ich misstraute dem geschriebenen Wort noch immer genug, um nicht alles aufzuschreiben, aber jedes Mal, wenn wir Sex gehabt hatten, zeichnete ich ein Herz und malte es aus.
    Ich wollte Amanda anrufen und ihr davon erzählen, obwohl Amanda mal gesagt hatte, dass anderer Leute Sexerlebnisse genauso langweilig wären wie anderer Leute Träume. Aber als ich in meinen Schrank ging, um meinen Plüschtiger rauszukramen, war das lila Telefon nicht mehr da.
    Mir wurde von Kopf bis Fuß kalt. Mein Tagebuch war immer noch in seinem Bärenversteck. Aber das Telefon war weg.
    Da kam Lucerne in mein Zimmer. Ob ich denn nicht wisse, sagte sie, dass jedes Telefon im Komplex registriert werden müsse, damit die Leute keine Betriebsgeheimnisse ausplauderten? Der Besitz eines unregistrierten Telefons sei ein Verbrechen, und das CorpSeCorps könne Anrufe rückverfolgen. Ob mir das nicht klar sei?
    Ich schüttelte den Kopf. »Kann man denn auch feststellen, wer einen angerufen hat?« Sie sagte, alle Nummern seien rückverfolgbar, und das könne für die Betreffenden an beiden Enden der Leitung richtig scheiße sein. Sie sagte nicht
richtig scheiße
, sie sagte,
unglückliche Folgen haben.
    Dann sagte sie, dass sie, anders als ich anscheinend glaubte, keine schlechte Mutter sei und dass ihr meine Interessen durchaus am Herzen lägen. Hätte sie zum Beispiel zufällig ein lila Telefon mit einer häufig angewählten Nummer gefunden, wäre sie ja vielleicht auf den Gedanken gekommen, eine SMS an diese Nummer zu schicken und derjenigen Person so etwas wie »Schmeiß weg!!« zu schreiben. Wenn dieses zweite Telefon also doch gefunden würde, dann in einem Müllcontainer. Und das lila Handy hätte sie ja vielleicht selbst entsorgt. Und jetzt gehe sie auf den Golfplatz, während ich hoffentlich sehr genau über ihre Worte nachdenken würde.
    Ich dachte wirklich sehr genau nach. Ich dachte, Lucerne hat einiges auf sich genommen, um Amanda zu schützen. Sie muss gewusst haben, mit wem ich telefoniere. Aber sie hasst Amanda. Also hat Lucerne in Wirklichkeit einiges auf sich genommen, um Zeb zu schützen: Trotz allem liebt sie ihn immer noch.
    Jetzt, wo ich in Jimmy verliebt war, hatte ich mehr Verständnis für Lucerne und ihr Verhalten in Bezug auf Zeb. Ich konnte nachvollziehen, wie jemand für den geliebten Menschen extreme Dinge tun konnte. Adam Eins sagte mal, wenn man einen anderen Menschen liebt, wird diese Liebe vielleicht nicht immer erwidert, wie man es gern hätte, aber sie sei trotzdem eine gute Sache, denn die Liebe strahlt in Form von Wellen von einem ab wie Energie, und einem völlig unbekannten Lebewesen könnte damit geholfen werden. Sein Beispiel war: Jemand stirbt an einem Virus und wird danach von Geiern gefressen. Der

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