Das Jahr der stillen Sonne
Kommen.‹
Stimme: ›Sir, wir haben Sie angepeilt und glauben zu wissen, wo Sie sich aufhalten. Dort sind Sie allerdings in Sicherheit. Ihr Signal ist stark. Kommen.‹
Moresby: ›Ich habe hier Anschluß ans Stromnetz, aber ich muß auf Batterie umschalten, wenn ich aufbreche. Kommen.‹
Stimme: ›Richtig, Sir. Falls Joliet nicht erreichbar ist, schlägt mein Chef vor, daß Sie einen Bogen nach Nordwesten machen und sich zu uns durchschlagen. Wir liegen westlich der Marineausbildungsstelle, aber Sie würden bereits vorher auf unsere Posten stoßen. Nehmen Sie sich vor den Jets in acht, Sir. Sie sind schwer bewaffnet und greifen sofort an. Kommen.‹
Moresby: ›Danke, Sergeant. Vielleicht komme ich zu Ihnen. Ende.‹
Moresby schaltete das Funkgerät aus und klemmte die Antenne ab. Das Tonbandgerät wurde abgestellt und blieb auf der Werkbank stehen. Er studierte nochmals die Karte und betrachtete nachdenklich die beiden Straßen, die nach Joliet hineinführten. Aber der Feind würde sie sofort sperren, sobald seine Patrouillen weit genug nach Süden vorgedrungen waren. Außerdem war es zu gefährlich, ein Auto zu benutzen; große bewegliche Ziele wurden schneller erfaßt als ein einzelner Mann.
Ein letzter Blick in den Lagerraum zeigte ihm nichts mehr, was er voraussichtlich brauchen würde. Moresby trank noch eine Büchse Wasser und verließ dann den Schutzraum. Der Korridor lag still, hell und staubig unter den wachsamen Augen der Fernsehkameras. Moresby hielt sich an seine Befehle und versuchte nicht einmal, eine der Türen zu öffnen. Er stieg die Treppe zum Ausgang hinauf. Die Warntafel, die bisher die Mitnahme von Waffen verboten hatte, war schwarz übermalt worden. Er hätte sie diesmal ohnehin ignoriert.
Moresby sah auf seine Uhr, bevor er die beiden Schlüssel in das Doppelschloß steckte. Als er die Tür öffnete, ertönte unter ihm ein Klingelzeichen.
Draußen war es taghell. Es war zehn vor fünf Uhr morgens. Auf dem Parkplatz standen keine Autos.
Moresby wußte, daß er einen Fehler gemacht hatte.
Die ersten Geräusche, die er hörte, waren das dumpfe Dröhnen eines Granatwerfers im Nordwesten und Gewehrfeuer in der Nähe – irgendwo am Osttor. Moresby knallte die Tür hinter sich zu und warf sich zu Boden. Daß ganz in seiner Nähe gekämpft wurde, war ein Schock. Er hielt das Gewehr schußbereit, während er zur Ecke des Laborgebäudes kroch.
Zwischen dem Stahlbetonklotz und dem nächsten Gebäude bewegte sich nichts. Aber der Gefechtslärm wurde lauter, als Moresby um die Ecke kroch.
Stürmischer Wind pfiff über das Laborgebäude hinweg, trieb Papierfetzen und Abfälle über die Straße und rauschte in den Bäumen. Der Wind schien von überallher zu kommen, wehte jedoch nach Nordosten. Moresby starrte in diese Richtung und erkannte, was die orangerote Glut am Horizont bedeutete: Dort brannte Chicago, und die unermeßliche Feuersbrunst sog aus allen Himmelsrichtungen Luft an, die sie brauchte, um Beton zu verbrennen, Glas zu schmelzen und Stahl zu verflüssigen.
Moresby beobachtete die Straße und den Parkplatz, bevor er plötzlich aufsprang und mit einigen riesigen Sätzen den Schutz des nächsten Gebäudes erreichte. Niemand schoß auf ihn. Er kroch weiter. Büsche boten ihm teilweise Deckung. Als er liegenblieb, um Atem zu schöpfen, merkte er, daß er das Funkgerät verloren hatte.
Er machte sich Sorgen wegen des Granatwerferfeuers, das noch immer andauerte.
Der Korporal und seine Männer, die den Zaun an der Nordwestecke zu verteidigen hatten, kämpften wahrscheinlich gegen eine Übermacht an. Der Leutnant hatte gesagt, der Hauptangriff werde in seinem Sektor geführt – offenbar irgendwo am Tor –, so daß er keinen Mann entbehren könne. Das war eine Fehlentscheidung gewesen. Moresby war davon überzeugt, daß der Leutnant die Lage falsch beurteilte. Vom Osttor her waren nur Gewehrschüsse und manchmal eine Schrotflinte zu hören, was zu beweisen schien, daß dort Zivilisten kämpften. Aber diese Granatwerfer im Nordwesten waren eine andere Sache!
Moresby setzte sich wieder in Bewegung. Er behielt seine ursprünglich nordwestliche Richtung bei, nutzte jede Deckung aus und rannte öfters die Straße entlang, um Zeit zu gewinnen. Aber er achtete ständig auf irgendeine Bewegung in seiner Nähe. Moresby war sich darüber im klaren, daß ihm eine wichtige Information fehlte: Er wußte nicht, wer die Jets, die Banditen, waren; er konnte Freund und Feind nicht
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