Das Jahr der Woelfe
aus. Der Schlitten sauste nur so über den Schnee. Janosch brauchte alle seine Kraft für das Gespann. Unvermittelt fuhren sie ins Kirchdorf. Die Häuser glitten vorbei. Die Kirche lag dunkel. Vermummte Leute strömten durch die Pforte. Janosch fuhr vor.
»Wenig Schlitten in diesem Jahr«, urteilte Kurt und zeigte auf fünf, sechs dunkle Schattenberge unter den Tannen.
»Voriges Jahr waren es doch mehr als dreißig«, behauptete er.
Sie traten in das Kirchenschiff. Es lag in stiller Dunkelheit. Olbrischts gingen nach vorn in ihre Bank. Die Bienmanns fanden unter der Kanzel einen Platz.
»Wir werden die Krippe und den Altar sehen können«, flüsterte Hedwig ihrem Bruder zu.
Am Eingang der Sakristei schimmerte eine Kerze und tupfte eine Lichtkugel in die Dunkelheit. Es raschelte in den Bänken. Hier und da klapperte ein Rosenkranz. Die Orgel begann leise zu spielen. Es war Konrad, als ob Geigen und Flöten mit einstimmten. Ohne die Glocke zu ziehen, trat der alte Pfarrer aus der Sakristei. Drei Messdiener begleiteten ihn mit dicken Kerzen. Ein vierter trug das Evangelienbuch behutsam wie einen großen Schatz. Die Farben ihrer Röcke leuchteten satt und lebendig. Die Orgel verstummte. Große Stille sank über die Kirche hin.
Der Pfarrer sang leise. Seine Stimme klang klar und hoch. Konrad musste daran denken, dass Janosch gesagt hatte: »Der Pfarrer singt für das Herz.« Und bis tief dorthin drangen die Gottesworte von der Not des Volkes Israel und seiner Hoffnung und aller Menschen Erlösung. Mehr Messdiener traten hinzu, heller strahlten die Kerzen. Die Babett, die den Küsterdienst übernommen hatte, seit ihr Mann bei den Soldaten war, zündete mit ihrem langen Stecken die Wachslichter an der Krippe an. Erst trat ein Engel aus der Dunkelheit, dann der Hirte, der unentwegt emporstarrte; der alte Schäfer und der Wolfshund wurden im gelben Licht sichtbar und bald die ganze Herde mit ihren Hütern. Immer weiter reckte die Babett ihren Stecken. Endlich erglühte das Licht im Stall.
»Denn heute ist euch der Heiland geboren, Christus der Herr«, sang der Pfarrer.
Brausend setzte die Orgel ein. Die Frauen- und Kinderstimmen jubelten und die wenigen alten Männer brummten den Bass.
»Der Heiland ist uns geboren!« Der Pfarrer zog mit den Messdienern in die Sakristei.
Immer mehr Kerzen erstrahlten. Der Altar glänzte auf. Durch die Luft wogte der Duft des gelben Bienenwachses. Hell läutete die Schelle.
Das Amt begann.
Nach dem Credo knieten alle nieder. Der Pfarrer sprach die Fürbitten, und langsam und ernst klang das »Erhöre uns, o Herr« der Gemeinde. In den ersten Jahren des großen Krieges hatte der Pfarrer immer die Namen der Gefallenen genannt. Doch nun waren es schon so viele.
Er betete: »Dass du denen gnädig seiest, die in der Erde Frankreichs ruhen, die im Schnee Russlands erstarrten, deren Leben unter der Glutsonne Afrikas zerrann, die in Griechenland blieben, in Rumänien ihr Blut vergossen, in Ungarns Pussta verscharrt wurden, in Bulgarien starben, in Polens Sümpfen versanken, in den Bergen und Meeren Norwegens ihr Leben ließen, unter dem Schirokko Italiens zum letzten Mal ›Mutter‹ schrien, in Holland und Belgien fielen, die im Eisenhagel der Bomben umkamen in den Gauen und Städten des Reiches. Dass du uns vor der Flucht im Winter bewahren mögest.«
Es zitterten die Stimmen: »Erhöre uns, o Herr.«
»Dass du uns den Frieden schenken wollest.«
Sogar Katharina knurrte: »Erhöre uns, o Herr!«
Der Pfarrer kniete schweigend auf den Stufen. Lange Zeit.
Es war spät, als Babett endlich das Eisenhütchen über die Kerzen stülpte und die Flammen erstickte.
Janosch fuhr gerade vor, da traten die Bienmanns in die Nacht hinaus. Der Sturm hatte die Schneewolken weggetrieben. Tausend Sterne glitzerten hoch und kalt. Hinter einer kleinen schwarzen Wolke verbarg sich der Mond und säumte ihre Ränder mit einem hellen Lichtstreifen.
»Frohe Weihnachten!«, wünschten sich die Bienmanns, die Olbrischts, die Nowaks.
»Wen soll ich mitnehmen?«, lachte Frau Olbrischt und schaute rundum. Schon wollte Vater sich zurückziehen, da fuhr sie fort: »Sie mit Ihrer Frau auf jeden Fall.«
»Und die Nowaks, bitte«, sagte Konrad leise.
Als Mutter ihn ängstlich anschaute, versicherte er: »Wir finden leicht den Weg. Wenn wir morgens zur Schule gehen, ist es auch dunkel, nicht, Hedwig?«
Das Mädchen nickte und schwieg.
»Na, los denn, steigt ein. Der Frost zieht in die Füße«, rief Frau
Weitere Kostenlose Bücher