Das Jahr der Woelfe
Olbrischt und zog sich steif in den Schlitten.
»Werdet doch die Kinderchen nicht allein lassen wollen in dieser Nacht?«, wehrte sich der alte Nowak. Doch seine Frau saß schon im Schlitten und rief hinaus: »Komm, Friedrich, komm; steig schon zu mir.«
»Geht der Straße nach«, mahnte der Vater.
Janosch beugte sich vom Bock zu Konrad hinab und flüsterte: »Und wenn die Wölfe kommen, wie bei deinem Großvater anno 1885, dann bete: ›Heiliger Franziskus, steh mir bei.‹ Denn der versteht sich auf die Tiere.«
»Wölfe!« Noch ehe Konrad sich vom Schrecken erholt hatte, glitt der Schlitten davon.
»Komm, lass uns gehen«, sagte Hedwig und lief eilig voran.
Bald schritt der Junge neben ihr. Der Wind wehte immer noch kalt und schnitt ihnen in die Haut. Das Dorf blieb zurück. Konrad schaute sich oft um. Ständig lauerte er aus den Augenwinkeln und suchte auf dem weiten Feld unter dem Wald. Schatten sprangen auf und glitten dahin. Mehr als einmal rief er den Beistand des heiligen Tierfreundes Franz an. Ihm wurde warm. Die Schlittenspuren waren deutliche Wegweiser. Erst drei übereinander, dann schließlich nur noch die vom Gutsschlitten.
Endlich bog auch diese Spur vom Weg ab. Ein Stück liefen sie noch zwischen den Bäumen in der Mitte der Straße. Der dünne Pulverschnee knirschte unter ihren Sohlen. Als sie den Hohlweg erreichten, sagte Hedwig: »Wir gehen auf der linken Seite über den Damm.« Er folgte ihr. »Du, Hedwig, hast du von den Wölfen gehört? Sie sollen aus Polen hereingekommen sein.«
»Was, Wölfe? Du hast dir einen Bären aufbinden lassen.«
»Und wenn sie kommen?«
»Großvater hat erzählt, dass der letzte 1908 hier bei der Jagd erschossen worden ist.«
»Aber nicht in Polen. Drüben hat es immer Wölfe gegeben.«
»Mach mich nicht bange.«
»Wir werden auf den Baum springen, weißt du?«
»Wenn du glaubst?«
Nun schaute auch Hedwig aus nach den wilden Jägern.
»Da, sieh«, zischte Konrad erschreckt. Er trat einen Schritt zurück zur Straße hin, verlor den festen Boden und brach in den losen Schnee bis über die Brust ein.
Hedwig lachte leise und reichte ihm die Hand zur Hilfe.
»Sei still. Ich habe es deutlich gesehen. Es war ein Wolf.«
Seine Gewissheit erschreckte sie und übergoss sie mit Furcht und Kraft. Mit der linken Hand hielt sie sich an einem Birkenstamm und zog. Konrad krabbelte heraus, weiß überpudert.
»Sieh dort«. Er zeigte zum Wald hinüber. Beide schmiegten sich eng an den Baum. Jetzt sah auch Hedwig, was den Bruder in den Schnee geworfen hatte. Deutlich bewegte sich ein schwarzer Schatten auf sie zu.
»Wölfe gehen in Rudeln, Konrad«, hauchte sie.
Der Schatten kam näher. Die Geschwister standen starr.
»Kein Wolf, Konrad; ein Mann ist es.«
Sie wollte weiter, doch er hielt sie zurück.
»Er kommt die Straße von Ortelsburg herauf.«
»Was sucht ein Mann hier um diese Zeit?«
Vielleicht kann ein Mann schlimmer sein als ein Wolf, dachte Hedwig und drückte sich enger an den Bruder.
Der Fremde lief vor ihnen auf die Kreuzung und eilends weiter auf die Grenze zu, gehetzt, als ob er verfolgt würde.
Die Kinder warteten, bis er ihnen aus den Augen war, und noch ein wenig länger.
»Wie still es heute ist, Hedwig. Kein Schuss fällt.«
»Wie im Frieden«, antwortete sie.
»Frieden«, sagte er leise. »Frieden, wie das wohl sein wird?«
»Ich weiß es auch nicht, Konrad.«
Sie erreichten die große Kurve. Der Himmel war jetzt ganz blank gefegt und schwarz und tief. »Schwester«, sagte Konrad.
»Ja?«
»Weißt du, dass Mutter im nächsten Jahr ein Kind bekommt?«
»Ja«, antwortete sie nur.
»Weißt du es von der Mutter?«, fragte er.
Sie schwieg.
»Ich will es lieb haben, Schwester.«
Da zog sie ihren Handschuh aus, strich ihm über die Backe und sagte: »Bist ein guter Junge, Konrad.«
»Weißt du schon, wer die Paten sein sollen?«
»Mutter sagt, Tante Grete und Onkel Thomas aus der Tuchler Heide sollen Paten werden. Aber wer weiß, was mit denen ist. Die Russen sind sicher längst dort.«
»Wer weiß«, sagte Konrad. Ihm fiel sein Vetter Kristian ein.
Im letzten Herbst hatte der ihn noch in Leschinen besucht und sie hatten ein Baumhaus gebaut und waren im Fluss geschwommen.
»Ich schenke der Mutter ein Kinderjäckchen«, verriet die Schwester. »Bei Großvater drüben habe ich es heimlich gestrickt.«
»Von mir bekommt sie einen Wollekasten. Aus Kirschbaumbrettern.«
»Fein«, lobte sie. »Das wünsche ich mir auch wohl
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