Das Jahr der Woelfe
einmal.« Wie gut das Kind die Menschen macht und ist doch noch nicht einmal geboren, dachte sie, bevor sie ins Haus trat.
Vater hatte auf die Kinder gewartet. Auf dem Kamin standen zwei Tassen Pfefferminztee. Sie tranken. Wohlige Wärme und Müdigkeit überkamen sie. Noch während der Vater sie zudeckte, schliefen sie ein.
Albert musste am nächsten Morgen lange rufen und rütteln, bevor er den Bruder aus dem Schlaf riss. Sie zogen sich in der Küche an und sangen. Die Lichter des Adventskranzes brannten. Jedes Kind trug eine dünne Kerze in der Hand.
Vater trat in die Küche und ließ die Tür zum Flur einen Spaltbreit auf. Die Schelle erklang. Am Adventskranz steckten die Kinder ihre Kerzen an. Vater nahm den kleinen Franz auf den Arm und trug ihm das Licht. Hell strahlte die Tanne im Glanz der zwölf Kerzen. Die silbernen Nüsse spiegelten das Licht wider und die bunten Plätzchen und roten Äpfel leuchteten.
Die Kinder standen und staunten.
Vor der Krippe sagte Albert sein Gedicht auf und stellte sein Licht vor den Stall. Hedwig und Konrad steckten ihre Kerzen in den Leuchter zu den Hirten. »Stille Nacht«, sangen sie. Dann nahm die Mutter das weiße Tuch vom Tisch, und Teller und Päckchen waren zu sehen.
»Ein Bogen und Pfeile«, jubelte Albert.
»Die Kiste dort ist auch für dich.« Mutter zeigte auf eine Holzkiste. Albert öffnete den Deckel und schlug die Hände zusammen: »Ein weißes Kaninchen! Seht nur, ein richtiges weißes Kaninchen.«
Er hob es am Nackenfell aus der Kiste und bestaunte die roten Augen und den Glanz des Felles. Das Näschen des Tieres zuckte und schnüffelte.
»Es hat einen langen Schnurrbart«, freute sich Albert. »Und wirklich rote Augen, ganz rote Augen. Ich werde es Nikolai nennen.«
Hedwig hielt sich ein neues Kleid vor. Niemand hätte darin Großmutter Lisas Sonntagskleid wieder
erkannt.
Konrad wog ein winziges Päckchen in der Hand und öffnete es zaudernd. Vater trat zu ihm. Der Junge hob den Deckel. Seine Augen wurden groß. Er blickte stumm auf den Vater, ängstlich noch, ob das ein Irrtum sei. Doch Vater wies ihn an Großvater. Der hob die kleine, goldene Taschenuhr an ihrer kurzen Kette aus der Schachtel und erzählte: »Die hat mein Vater mir geschenkt und ich habe sie Johannes, deinem Vater, weitergegeben, als er achtzehn Jahre alt war. Und nun bekommst du sie. Bewahre sie treu, damit du sie einst an deinen ältesten Sohn weitergeben kannst.«
Der Morgen brach grau herein und verhieß, dass der Tag mehr Schnee bringen wird.
In der Nacht zum zweiten Feiertag wurden plötzlich alle Männer zusammengeholt. Der Wald sollte durchsucht werden. Russen seien mit dem Fallschirm abgesprungen, hieß es. Da fiel den Kindern der Mann ein, der ihnen in der Weihnachtsnacht begegnet war. Vater hörte sie an, doch verbot er ihnen, weiter darüber zu reden.
10
Das neue Jahr war ins Land geschritten. Mit ihm wuchsen die Sorgen der Erwachsenen und die Angst der Kleinen. Immer häufiger wurde Vater mit allen Männern des Dorfes in den Wald befohlen. Panzergräben wurden geschaufelt und Erdwälle aufgeworfen. Niemand nahm Rücksicht auf Vaters Krankheit. Müde und hart hustend kehrte er zurück und kroch, ohne einen Bissen zu essen, ins Bett.
Die Ferien gingen zu Ende. Der Lehrer stellte sich am ersten Schultag vor die Klasse. Doch statt von Bruchrechnungen und Rechtschreiben zu sprechen, sagte er müde und mit leiser Stimme: »Kinder, die Schule wird für die nächsten Wochen ihre Türen schließen.«
Sie verstanden ihn nicht. Er sah es an ihren Augen.
»Ihr habt schulfrei. Vorläufig ist keine Schule mehr.«
Kein Jubel brach los, kein Freudengeschrei.
Schließlich stand Grunwald zögernd auf und fragte: »Warum, Verzeihung, warum, Herr Lehrer?«
Da trat der Lehrer zu der Europakarte mit den staubigen Fähnchen, nahm das rote Zeichen, das weit in Russland am Wolgaknie steckte, hielt einen Augenblick inne und spießte es dann auf Königsberg. »Deshalb«, sagte er und zog die Schultern hoch, als ob ihn fröstelte. Eine Weile noch saßen die Kinder mit erschreckten Gesichtern.
Der Lehrer stand vor ihnen, traurig und schweigsam. Er blickte von einem zum andern, nicht lange, und doch war es Konrad, als blickte er durch ihn hindurch. Auf einmal richtete er sich auf und faltete kurz die Hände. Die Kinder ängstigte das Ungewohnte. Dann schlug er ein großes Kreuz über sie. Seine Lippen bewegten sich, obwohl Konrad keinen Laut vernahm. Grußlos wandte er sich zur Tür. Er
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