Das Jahr der Woelfe
verließ seine Klasse, ohne sich noch einmal umzusehen.
Da packten sie ihre Taschen und schlüpften still und bedrückt in die Mäntel. Der Wind schlug die Schultür hinter ihnen hart ins Schloss.
Kurz vor ein Uhr saßen sie in Großvaters Holzhaus. Das Radio war eingeschaltet. Vater hatte früher nie Zeit und Lust gehabt, Radio zu hören. Jetzt fand er sich pünktlich um ein Uhr ein. Er breitete die Karte von Ostpreußen aus. Sie war schmutzig und abgegriffen. Hinter die Knickstellen hatte Hedwig schmale Leinenstreifen kleben müssen.
Ein roter Pfeil zog sich über die Memel und die Stadt Tilsit hin auf Königsberg zu. Ein zweiter trennte sich in Litauen von diesem und brach bei Lyck in das Land ein.
»Hier meldet sich der Deutschlandsender. Es ist dreizehn Uhr. Wir senden Nachrichten.«
Die Gespräche brachen ab. Alle lauschten gespannt.
»Zunächst der Wehrmachtsbericht: Im Zuge einer Frontverkürzung im Osten wurde heute in den frühen Morgenstunden das Ostufer der Memel von unseren Verbänden geräumt. An der Südostgrenze Ostpreußens gelang es durch tapferen Einsatz des Heeres und der Volkssturmeinheiten, den russischen Angriff trotz feindlicher Panzerverbände zum Stehen zu bringen. Dabei wurden 18 schwere russische Panzer vom Typ 34 vernichtet. Eine unmittelbare Gefahr besteht für die Bevölkerung Ostpreußens nicht. An der Westfront …«
Vater war aufgestanden und hatte das Radio ausgeschaltet. Er zog seinen roten Pfeil bis über Lyck hinaus.
»Reich mir doch die Karte einmal herüber«, bat Großvater. Schweigend betrachtete er sie und sagte dann: »Genau wie damals, im August anno 1914.« Nach einer Pause sprach er weiter: »Aber jetzt folgt kein Siegessommer mehr.«
»Großvater, wie war das 1914?«, wollte Albert wissen.
Konrad rückte nahe an Großvaters Bett. Selbst Vater setzte sich wieder. Großvater sah unschlüssig auf die Karte.
»Am 20. August 1914 brach das Unglück herein. Die Russen marschierten ins Land wie heute. Die Menschen flohen aus ihren Dörfern. Wir zogen Hals über Kopf bis in die Gegend von Guttstadt. Bis dorthin kam die Front nicht. Aber das Schießen war zu hören, und die Häuser und Scheunen waren überfüllt mit Frauen und Kindern aus der Ortelsburger Gegend. Wir hatten den Wagen noch gar nicht ausgepackt, als Alexander Wassiljewitsch Samsonow mit seinen Armeen Allenstein erreichte. Doch am 28. August schlug Hindenburg Samsonows Narew-Armee und trieb die Russen zurück. Die Schlacht bei Tannenberg. 191 000 Russen, versunken in den Sümpfen, getötet, gefangen. – Diese schrecklichen Kriege. Nichts bringen sie als Tränen und Tod.«
Großvater schwieg erschöpft. Schwarze Ringe lagen unter seinen Augen.
»Aber diesmal gibt es keinen Siegessommer«, wiederholte der Vater.
»Sie halten die Front. Ihr habt es selbst im Radio gehört«, warf Konrad ein.
»Wir mit unserem Volkssturm aus Kindern und Greisen, wir können sie wohl nicht mehr halten.« Und doch klang eine leise Hoffnung durch Vaters Worte.
»Achte auf die Weichsel, auf Bromberg, Johannes, auf Thorn«, sagte Großvater leise. Er öffnete die Augen nicht beim Sprechen.
»Was, Weichsel?« Vater schlug mit der Hand in den Wind.
»Vergeltung für Tannenberg, Johannes.«
Da verstand ihn der Vater, und Konrad sah, wie er von Bromberg aus mit dem Finger die Weichsel entlangstrich bis nach Danzig. Er stieß einen leisen Pfiff aus und strichelte einen dritten Pfeil von Bromberg auf die Ostsee zu.
»Wenn es so kommt«, sagte er, »dann sind Grete und Thomas sicher schon geflohen. Wenn die Russen aus der Tuchler Heide kommen …«
»Dann sind wir ja …«, flüsterte Konrad.
»Jawohl, Sohn, dann sind wir rings vom Feind eingeschlossen.«
»Komm«, forderte der Vater Konrad auf. »Wir wollen alles bereitmachen.«
Der Wagen stand fertig. Ein Gewölbe aus Segeltuch spannte sich über den Kasten. »Wie ein Zelt«, hatte Albert gesagt.
»Wir packen die Werkzeugkiste.«
Er dachte an Beil, Nägel, Hammer, Zange, Sturmlaterne, Wagenheber und vergaß nicht, für den braunen Lotter passende Hufeisen und spitze Hufnägel einzupacken.
»Wie lange warten wir noch?«, fragte Konrad. Am liebsten wäre er gleich aufgebrochen.
Aber wohin? Wo sollten die vier Kühe bleiben, die Enten, die Hühner, die Schweine? Wo Alberts Kaninchen? Was geschah mit der Ernte, dem Rotten in den Säcken, dem Heu und Stroh in der Scheune, den gelben Rüben im Keller, wer sollte die Kartoffeln essen? Was sollte mit Großvater
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