Das Jahr der Woelfe
geschehen?
Als sie am Abend in ihren Betten lagen, hörte Konrad seine Schwester leise weinen.
»Was ist, Hedwig?«
Sie zog die Decke über den Kopf. Er tastete sich zu ihr hinüber. Ihre Schultern zitterten.
»Was ist, Schwester?«
Sie schlang ihm die Arme um den Hals. »Ich will nicht fort von hier, Konrad. Ich will nicht fort von Leschinen.«
11
Zunächst schien es so, als habe Großvater sich geirrt. Die Russen kamen von Osten und Südosten und überschritten die Memel mit einer ganzen Armee und drangen Tag für Tag weiter vor.
»Soldaten!«, rief Albert eines Tages durch den Türspalt in die Küche und rannte sofort wieder davon. Mutter fasste sich ans Herz. Sie dachte an Vater, der am frühen Morgen Lotter vor den leichten Wagen gespannt hatte und in die Stadt gefahren war. Mit Großvater stand es schlecht. Das Telefon bei Olbrischt lag seit Tagen still und tot. Da hatte sich Vater entschlossen aufgemacht, um Dr. Lukowski zu holen.
Konrad sprang Albert nach.
Die Feldgrauen gingen in kleinen Gruppen dem Wasser zu. Noch trugen sie den Stahlhelm am Koppel. Immer mehr kamen und eilten durch das Dorf. Die Warczak bot einem einen Becher Milch an. Der winkte müde ab. »Wohin?«, fragte sie einen anderen. »Dort hinüber«, antwortete er. Das sah sie selbst und wurde nicht klüger. Die Bienmannskinder standen eng beisammen. Hedwig hatte Franz auf dem Arm. Ein Soldat trat zu ihnen. Er trug ein leichtes Maschinengewehr auf der Schulter. Sein Bart war ein paar Tage alt. Er griff in die Tasche, beugte sich zu Franz hin und hielt ein rotes Bonbon in den Fingern. Franz griff danach und steckte es in den Mund.
»Danke«, rief Albert für seinen Bruder. Der Soldat lachte und fand auch eins für ihn.
»Es ist das letzte«, sagte er zu Hedwig.
»Nicht schlimm«, antwortete sie.
Ein offener Personenwagen preschte heran und bremste. »Was ist los, Mann?«
Der Soldat mit dem Maschinengewehr machte die Andeutung einer strammen Haltung und sagte ruhig: »So alt ist meiner auch wohl jetzt, Herr Hauptmann.«
»Na und?«, fragte der, schon halb besänftigt.
»Und ich habe ihn erst einmal gesehen.« Der Soldat senkte den Kopf. »Achtzehn Monate schon keinen Urlaub mehr, Herr Hauptmann, wissen Sie.«
Der Hauptmann schwieg.
»Achtzehn Monate ist eine lange Zeit, Herr Hauptmann, eine sehr lange Zeit.« Grußlos ging er den anderen nach.
»Verdammter Krieg«, murmelte der Hauptmann. Sein Gesicht war müde und blass. Dann wandte er sich an die Kinder. »Wollt ihr denn noch nicht los?« Er deutete zu Olbrischts hinüber. Dann gab er dem Fahrer das Zeichen. Der Motor ratterte heller.
Die Kinder rannten zum Gutshof. Der letzte von drei schwer beladenen Wagen bog gerade in die Straße ein.
»Wo ist Janosch?«, schrie Konrad. Er suchte den alten Knecht vergebens unter den Mägden und Kindern, die auf dem offenen Wagen dick und eingemummt zwischen Kisten und Bündeln hockten.
»Was weiß ich?«, war die Antwort. Eine alte Magd rief: »Bei den Kühen sitzt er. Bei den Kühen im großen Stall.«
Hedwig trug Franz nach Hause. Albert folgte ihr. Konrad suchte Janosch. Er fand ihn im Halbdunkel des Stalles.
»Warum ziehst du nicht mit deinen Leuten?«
»Und wer sorgt für diese?« Janosch zeigte auf die Kühe, die Schweine. »Ich bleibe hier. Ich bin ein alter Mann.« Er klopfte auf sein Holzbein. »Ich bleibe hier.« Er strich der Rotbunten das Fell. »Aber ihr, Jungchen, ihr müsst fliehen. Es wird bald schlimm zugehen hier.«
Als ob seine Worte bekräftigt werden sollten, zog ein hohes Heulen durch die Luft und brach ab in einer Explosion.
Die Kühe warfen die Köpfe hoch. Die Ketten klirrten.
»Na, ruhig, ruhig«, mahnte Janosch. »Das war noch nicht im Dorf. Am Fluss vielleicht.«
Dann stand er auf. »Warte ein Weilchen, Jungchen.«
Er hinkte davon. Konrad blieb allein bei den unruhigen Tieren zurück. Er legte die Hand zwischen die Ohren einer Kuh. Bald hörte er wieder Janoschs Holzbein.
»Da«, sagte dieser und seine Stimme klang ein wenig heiser.
»Nimm das von mir. Du warst ein gutes Jungchen«, und er legte Konrad einen Rosenkranz in die Hand. Seine Perlen waren brauner rauchiger Bernstein. »Wirst ihn brauchen.«
Konrad konnte nichts sagen.
»Nun aber schnell, Jungchen, lauf zur Mutter.« Er fasste Konrad bei den Schultern und drehte ihn zur Tür hin.
Konrad ging. Doch bevor er in den düsteren Tag hinaustrat, drehte er sich noch einmal um. Janosch hielt den Kopf in das Fell der Kuh gepresst und hatte ihr
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