Das Jahr des Hasen
ab.
Auch Vatanen beschloß, die Stadt zu verlassen, denn in der Lokalzeitung stand eine Meldung, der zufolge das von den Deutschen zurückgelassene Kriegsgerät den Alliierten gehörte. In dem Artikel äußerte ein Major seine Verwunderung darüber, daß irgendwo in Meltaus »priva te Kreise« Eisenschrott aus dem Lappland-Krieg gesam melt und auf eigene Rechnung verkauft hatten.
Vatanen faltete die Zeitung zusammen. Er überlegte, wo Kurko sich jetzt herumtreiben mochte. Vielleicht hatte er sich ein neues Gebiß beschafft.
»Wir sollten uns auch wieder auf den Weg machen«, sagte Vatanen zum Hasen, der zu seinen Füßen saß.
Und so verließen sie Rovaniemi. Es war schon Ende August, am Morgen hatte es geschneit, doch gleich darauf wieder getaut.
13. KAPITEL
Der Rabe
Bevor der Schnee kam, fuhr Vatanen mit dem Linienbus nach Posio, ins südliche Lappland.
Er besorgte sich dort eine Arbeit als Holzfäller, acht Kilometer von der Landstraße entfernt, in der Gegend hinter Simojärvi. Es war eine trostlose Einöde zwischen zwei Flußläufen, aber die Arbeit wurde bezahlt, und die Hauptsache war, daß der Hase nicht in bewohnten Gebieten leben mußte.
Vatanen wohnte in einer Hütte am Rande eines weiten Moores auf einer kleinen mit Kiefern bewachsenen Insel. Zweimal in der Woche ging er ins Dorf, um sich Proviant und Zigaretten zu besorgen und aus der Bibliothek ein paar Bücher zu entleihen. So verbrachte er mehrere Wochen, und in dieser Zeit las er manch gutes Buch.
Seine Lebensbedingungen waren mehr als einfach. Vatanens Arbeit war schwer, doch sie gefiel ihm: Er
fühlte seine Kräfte wachsen, und er mußte sich nicht mit der Vorstellung belasten, diese Arbeit bis an sein Lebensende zu machen.
Manchmal, wenn Schneeregen fiel und er bei Ein bruch des Abends seine Erschöpfung spürte, dachte er über sein Leben nach: Wie anders war es doch im Früh jahr, bis zum Mittsommer, gewesen.
Völlig anders!
Vatanen sprach laut mit dem Hasen, und der hörte geduldig zu, ohne ein Wort zu verstehen. Vatanen schürte das Feuer vor der Hütte, beobachtete die Anzei chen des nahenden Winters und schlief in der Nacht so wachsam wie ein Waldtier.
Vom ersten Tage an machte Vatanen in dieser Moor- und Schneelandschaft ein Problem zu schaffen.
Als er auf der Moorinsel zwischen vertrockneten Föh ren seine bescheidene Hütte errichtet hatte, ließ sich dort auch der schlimmste Vogel des Waldes, ein Rabe, nieder.
Er kam im Schneeregen geflogen, mager und mit nas sen Flügeln, drehte ein paar Runden über der Insel, und als er merkte, daß er nicht verfolgt wurde, landete er auf einem Baum in Vatanens Nähe und schüttelte den Schnee von sich ab wie ein rheumatischer Hund. Der Anblick war äußerst deprimierend.
Vatanen empfand tiefes Mitleid mit der Kreatur. Ganz offensichtlich hatte dieser Kümmerling in letzter Zeit kein sehr angenehmes Leben geführt. Ein wirklich elen des Geschöpf.
Als Vatanen am nächsten Abend müde aus dem Wald zurückgekehrt war und sich ein Abendessen zubereiten wollte, staunte er nicht schlecht. Sein Rucksack, der offen in der Hütte gelegen hatte, war Opfer eines Raubes geworden. Eine beträchtliche Menge Proviant war dar aus verschwunden: ein halbes Pfund Butter, eine ange brochene Dose mit Rind- und Schweinefleisch sowie etliche Scheiben Knäckebrot. Der Missetäter konnte nur jene unglückliche Kreatur, der Rabe, gewesen sein, der am vergangenen Abend so tiefes Mitleid in Vatanen erweckt hatte. Er hatte mit seinem Schnabel die Le bensmittel aus ihrer Verpackung gerissen, einen Teil davon verstreut und einen anderen Teil vermutlich in irgendein Versteck geschleppt, das nur er kannte.
Der Rabe saß ganz in der Nähe im Wipfel einer hohen Kiefer. Eine Seite des Baumes war mit schwarzen, glän zenden Klecksen bedeckt: Er hatte vom Ast herunterge schissen.
Der Hase war unruhig, wahrscheinlich war er in Va tanens Abwesenheit vom Raben bedrängt worden.
Vatanen warf einen Stein nach dem Raben, ohne zu treffen. Der Vogel rückte widerwillig zur Seite und be wegte nicht einmal die Flügel. Erst als Vatanen herbei stürzte und mit der Axt gegen den Stamm schlug, flog er auf einen anderen Baum.
Ein Gewehr hätte man haben müssen, aber das hatte Vatanen nun mal nicht.
Er öffnete eine neue Fleischbüchse, briet den Inhalt in der Pfanne und aß die restlichen Scheiben Knäckebrot trocken, ohne Butter. Während er diese bescheidene Mahlzeit zu sich nahm, beobachtete
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