Das Jahr des Hasen
zu dieser Zeit begann der Jüngling, in dessen empfindsamem Gemüt die unterschiedlichsten Weltbil der miteinander rangen, sein Ich mit Hilfe von Büchern zu suchen. Er begeisterte sich für das Gedankengut von Tolstoi, und als dessen Reiz mit der Zeit verflog, widmete er sich den asiatischen Religionen, von denen ihn der Buddhismus am tiefsten beeindruckte. Er plante sogar eine Reise in die Gebiete Asiens, in denen diese Religion zu Hause ist, doch da seine Eltern seine Anschauungen nicht im mindesten billigten und ihm somit auch kein Reisegeld gaben, wurde seinen religiösen Gefühlen unter dem Zwang der Umstände vorerst ein Dämpfer aufge setzt.
Auf seiner ersten und zugleich einzigen Lehrerstelle in Liminka entdeckte Kaartinen sein Interesse für den Anarchismus. Er bestellte für die Schulbücherei franzö sischsprachige Werke zu diesem Thema und machte sich mit Hilfe eines Wörterbuches an die Lektüre. Er setzte so viele dieser Gedanken in die Tat um, daß ihn der Vorstand der Schule im zweiten Halbjahr von der Aufgabe des Schulleiters entband. Im Sommer danach wandte sich der ehemalige Lehrer vom Anarchismus ab und vertiefte sich mit Feuereifer in die Grundlagen des Fennismus. Er ackerte Dutzende von Werken durch, deren Verfasser auf das hehre fennomanische Ideal schworen; er beschloß den Sommer mit dem Studium der Vorgeschichte des finnischen Volkes. Je mehr sich Kaartinen mit der Gedankenwelt der Vorväter vertraut machte, desto überzeugter wurde er, daß er endlich gefunden hatte, was er in all den Jahren gesucht hatte: den Glauben der Vorväter, die wahre Religion, eines echten Finnen würdig.
In feurigen Worten erläuterte Kaartinen seine Religi on, die er bereits seit Jahren ausübte. Eindringlich erzählte er von Wald- und Erdgeistern, vom Gott des Donners, von Opfersteinen, weisen Alten, Zaubersprü chen, Opfergaben. Er schilderte religiöse Bräuche und Rituale der Vergangenheit und gestand, er habe sich Opferriten seiner Stammväter von vor tausend Jahren zu eigen gemacht. Seitdem er als Skilehrer im Norden tätig sei, habe er das Gedankengut der finnischstämmi gen Völker durch samische Elemente ergänzt, und alle diese Bräuche praktiziere er, wenn er tief in den Wäl dern allein sei. In der Stadt sei das Ausüben der Religion nicht möglich, erklärte er.
Er erzählte weiter, er habe sich am Ufer eines kleinen Teiches in Vittumaisenoja mit der Motorsäge aus Baumwipfeln einen eigenen Fischgott gebaut, dem er außerhalb der Touristensaison diene. In der Mitte des Zauberkreises habe er aus Steinen einen Opferherd errichtet, auf dem er lebende Tiere zu opfern pflege, manchmal einen mit dem Netz gefangenen Unglückshä her oder ein in die Falle gegangenes Schneehuhn oder auch mal ein in Ivalo gekauftes Hündchen. Jetzt habe er ein wirklich freies Waldtier opfern wollen, eben diesen Hasen, und da Vatanen nicht bereit gewesen sei, ihm das Tier zu verkaufen, sei ihm, Kaartinen, nur eine Möglichkeit geblieben, seine Götter zu besänftigen: den Hasen zu entwenden. Er habe ein erfülltes Leben und spüre, daß die alten Götter mit ihm zufrieden seien und daß es keine anderen Götter gebe. Einen Seelenfrieden von ebenso wunderbarer Art wünsche er auch Vatanen, ja er schlug ihm vor, sie sollten den Hasen gemeinsam den Göttern opfern.
Nachdem sich Vatanen die lange Geschichte einer re ligiösen Erweckung angehört hatte, erklärte er, er sei bereit, das Geschehene zu vergessen, nahm Kaartinen jedoch das Versprechen ab, dem Hasen künftig fernzu
bleiben, besonders in religiöser Hinsicht. Als Vatanen am Abend in Begleitung des Hasen lang-
sam zu seiner Hütte zurücklief, war Kaartinens sonder bare Welt aus seinen Gedanken verschwunden. Am Himmel schien der Halbmond, matte Sterne schimmer ten. Vatanen besaß seine eigene Welt; hier konnte er in Frieden leben. Der Hase hoppelte lautlos wie ein Weg weiser vor dem Skifahrer her. Vatanen sang ihm ein Lied
15. KAPITEL
Der Bär
Vatanen fällte in der Nähe der Hütte ein paar kräftige Kiefern, sägte sie in passende Stücke, hobelte daraus Balken zurecht und ersetzte die morschen Teile der Hütte. Eine prachtvolle neue Wand entstand.
Für den Hasen hatte er am Bach ein paar Espen ge fällt und sie auf den Hof der Hütte geschleift. Daran nagte das anspruchslose Tier nun Tag für Tag herum. Es schien, als betätige auch der Hase sich als Schreiner, jedenfalls wurden die Espenstämme hell, als er die Rinde abgefressen
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