Das Jahr Des Werwolfs
fünfzehn Minuten vor Mitternacht am Silvesterabend. In Tarker’s Mills, wie in der übrigen Welt, geht das Jahr zu Ende, und in Tarker’s Mills, wie in der übrigen Welt, hat das Jahr Veränderungen gebracht.
Milt Sturmfuller ist tot, und seine Frau Donna Lee, endlich ihrer Fesseln ledig, hat die Stadt verlassen. Sie ist nach Boston gegangen, meinen einige, andere tippen auf Los Angeles. Eine andere Frau versuchte, den Buchladen der Sturmfullers weiterzuführen, und hatte kein Glück damit, aber der Frisörladen, der Supermarkt und die Kneipe betreiben ihre Geschäfte, Gott sei Dank, noch immer an der gleichen Stelle. Clyde Corliss ist tot, aber seine beiden nichtsnutzigen Brüder Alden und
Errol leben noch und sind gesund. Sie lösen ihre Lebensmittelgutscheine bei der A&P in der übernächsten Stadt ein — sie haben nicht ganz den Nerv, es gleich hier am Ort zu tun. Großmutter Hague, die die besten Kuchen in Tarker’s Mills backen konnte, ist an einem Herzanfall gestorben. Der zweiundneunzigjährige Willie Harrington ist im November vor seinem kleinen Haus in der Ball Street auf dem Eis ausgerutscht und hat sich die Hüfte gebrochen, aber der Bibliothek wurde von einem reichen Sommergast eine schöne Summe vermacht, und im nächsten Jahr beginnen die Bau-arbeiten am Flügel für Kinderbücher, über den schon seit ewigen Zeiten im Stadtrat geredet wurde. Ollie Parker, der Rektor der Schule, bekam im Oktober Nasenbluten, das nicht wieder aufhörte, und es wurde festgestellt, daß er an akutem Bluthochdruck leidet. Sie haben Glück gehabt, daß Ihr Gehirn nicht mit rausgelaufen ist, knurrte der Arzt, nahm die Manschette für die Blutdruckmessung ab und riet Ollie dringend, vierzig Pfund abzunehmen. Wie durch ein Wunder hatte Ollie zwanzig von diesen vierzig Pfund zu Weihnachten schon verloren. Er fühlt sich wie ein neuer Mann und sieht auch so aus. »Er benimmt sich auch wie ein neuer Mann«, erzählt seine Frau ihrer guten Freundin Delia Burney mit einem lüsternen kleinen Grinsen. Brady Kincaid, den die Bestie beim Drachensteigen getötet hat, ist immer noch tot. Und Marty Coslaw, der in der Schule direkt hinter Brady gesessen hatte, ist immer noch ein Krüppel.
Die Dinge verändern sich, und sie verändern sich nicht, und in Tarker’s Mills endet das Jahr, wie das Jahr begonnen hat: Draußen tobt heulend ein Schneesturm, und die Bestie ist unterwegs. Irgendwo.
Im Wohnzimmer der Coslaws sitzen Marty Coslaw und sein Onkel AI und sehen Dick Clarks Rocking New Year’s Eve. Onkel AI sitzt auf der Couch. Marty sitzt in seinem Rollstuhl vor dem Fernsehgerät. Auf seinem Schoß liegt eine Waffe, ein .38 Colt Woodsman. In der Trommel stecken zwei Kugeln, und sie sind beide aus reinem Silber. Onkel AI hat Mac McCutcheon, einen seiner Freunde aus Hampden, gebeten, sie für ihn herzustellen. Nach einigem Protest hat dieser Mac McCutcheon Martys silbernen Konfirmationslöffel mit einem Propangasbrenner eingeschmolzen und die Pulvermenge so bemessen, daß sie als Treibsatz ausreicht, ohne daß die Kugeln sich wild überschla
gen. »Ich kann nicht garantieren, daß sie funktionieren«, hat dieser Mac McCutcheon zu Onkel AI gesagt, »aber ich denke schon. Was willst du denn damit umbringen, AI? Einen Werwolf oder einen Vampir?«
»Von jeder Sorte einen«, sagt Onkel AI und grinst ihn an.
»Deshalb bat ich dich, zwei zu machen. Da war auch noch ein Zombie, aber sein Vater in North Dakota ist gestorben, und er mußte die nächste Maschine nach Fargo nehmen.« Sie lachten darüber, und dann sagte AI: »Sie ist für einen Neffen von mir. Der Junge ist ganz verrückt nach Monsterfilmen, und da hielt ich das für ein interessantes Weihnachtsgeschenk.«
»Nun, wenn er eine davon in ein Stück Holz schießt, dann bring es in meinen Laden«, sagt Mac zu ihm. »Ich möchte gern sehen, was passiert.«
In Wirklichkeit weiß Onkel AI nicht, was er von der ganzen Sache halten soll. Seit dem dritten Juli hat er weder Marty gesehen, noch ist er überhaupt in Tarker’s Mills gewesen; wie man hätte voraussehen können. Martys Mutter ist wütend auf ihn wegen der Feuerwerkskörper. Er hätte umkommen können, du dummes Arschloch! schreit sie ihn am Telefon an. Was in aller Welt hast du dir nur dabei gedacht
Es sieht doch so aus, als hätten gerade die Feuerwerkskörper ihm das Leben — fängt AI an, aber er hört nur das scharfe Klicken, als sie auflegt. Seine Schwester ist stur; wenn sie etwas nicht hören will, dann hört
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