Das Jahr Des Werwolfs
sie es auch nicht.
Dann kam Anfang des Monats ein Anruf von Marty. »Ich muß dich sprechen, Onkel AI«, sagte Marty. »Du bist der einzige, mit dem ich reden kann.«
»Ich habe schlechte Karten bei deiner Mutter, Junge«, sagte AI.
»Es ist wichtig«, sagte Marty. »Bitte, bitte.«
Er kam also und ertrug das eisige mißbilligende
Schweigen seiner Schwester, und an einem klaren kalten Tag Anfang Dezember lud er Marty vorsichtig in den Beifahrersitz seines Sportwagens und machte mit ihm eine Ausfahrt. Aber an dem Tag wurde nicht gerast, und es gab kein wildes Gelächter; Onkel AI hörte sich nur an, was Marty ihm zu sagen hatte. Onkel AI hörte Martys Geschichte mit wachsender Besorgnis.
Zuerst erzählte Marty Onkel AI von der wunderbaren Feuerwerksnacht, und wie er der Bestie
mit Knallfröschen das linke Auge ausgeschossen hatte. Dann erzählte er von Allerheiligen und Reverend Löwe. Dann erzählte er Onkel AI, daß er damit angefangen hatte, Reverend Löwe anonyme Notizen zu schicken … anonym bis auf die beiden letzten, die auf den Mord an Milt Sturmfuller in Portland folgten. Diese unterschrieb er, wie er es in der Schule gelernt hatte: Mit freundlichem Gruß, Martin Coslaw.
»Du hättest dem Mann keine Notizen schicken sollen, weder anonym noch sonstwie«, sagte Onkel AI scharf. »Mein Gott, Marty, hast du denn nicht ein einziges Mal daran gedacht, daß du dich irren könntest?«
»Natürlich habe ich das. Deshalb habe ich die letzten beiden Notizen ja auch unterschrieben. Willst du nicht wissen, was dann passierte? Willst du mich nicht fragen, ob er meinen Vater angerufen hat, um ihm zu erzählen, daß ich ihm eine Notiz geschickt hätte, auf der stand ›Warum nehmen Sie sich nicht das Leben?‹ und eine andere, auf der stand ›Wir sind Ihnen auf der Spur‹?«
»Das hat er nicht getan, nicht wahr?« fragte AI und wußte die Antwort schon. »Nein«, sagte Marty ruhig. »Er hat nicht mit
Daddy gesprochen, er hat nicht mit Mommy gesprochen, und er hat auch nicht mir mir gesprochen.«
»Marty, für die Augenklappe könnte es hundert Gründe — «
»Es gibt nur einen. Er ist der Werwolf, er ist die Bestie, er ist es, und er wartet auf den Vollmond. Als Reverend Löwe kann er nichts tun. Aber als Werwolf kann er sehr viel tun. Er kann mich zum Schweigen bringen.«
Und Marty sprach so kalt und einfach, daß AI fast überzeugt war. »Was willst du also von mir?« fragte AI.
Marty sagte es ihm. Er wollte zwei silberne Kugeln und einen Revolver, mit dem man sie abfeuern konnte, und er wollte, daß Onkel AI sie am Silvesterabend besuchte, denn in dieser Nacht würde Vollmond sein.
»Ich werde nichts dergleichen tun«, sagte Onkel AI. »Marty, du bist ein guter Junge, aber du drehst langsam durch. Ich glaube, du bist ein schwerer Fall von Rollstuhlfieber. Wenn du über alles noch einmal nachdenkst, weißt du es selbst.«
»Vielleicht«, sagte Marty. »Aber überleg doch einmal, was du empfinden wirst, wenn du am Neujahrstag einen Anruf bekommst und erfährst, daß ich tot und in Stücke gerissen im Bett liege. Willst du das auf dein Gewissen nehmen, Onkel AI?«
AI wollte etwas sagen, aber er schloß sofort wieder den Mund.
Er bog in eine Einfahrt ein und hörte den Neuschnee unter den Vorderreifen seines Mercedes knirschen. Dann setzte er zurück, und sie fuhren wieder nach Hause. Er hatte in Vietnam gekämpft und war mehrfach ausgezeichnet worden; er hatte erfolgreich längere Beziehungen zu einigen energischen Frauen vermieden; und jetzt sah er sich von seinem elfjährigen Neffen in die Enge getrieben. Von seinem verkrüppelten elfjährigen Neffen. Natürlich wollte er so etwas nicht auf sein Gewissen nehmen — noch nicht einmal die Möglichkeit. Und das wußte Marty. Und Marty wußte auch: wenn Onkel AI auch nur die geringste Chance sah, daß er, Marty, recht haben könnte —
Vier Tage später, am zehnten Dezember, rief Onkel AI an. »Ich habe eine wunderbare Nachricht«, rief Marty seiner Familie zu, als er mit seinem Rollstuhl ins Wohnzimmer fuhr. »Onkel AI kommt zu Silvester zu uns!«
»Das tut er nicht«, sagte seine Mutter in ihrem kältesten und schroffsten Ton.
Marty ließ sich nicht einschüchtern.
»Oh, das tut mir leid — ich habe ihn schon eingeladen«, sagte er. »Er will Leuchtpulver für den Kamin mitbringen.«
Seine Mutter verbrachte den Rest des Abends damit, ihn wütend anzustarren, wenn er in ihre Richtung schaute oder sie in seine … aber sie rief ihren Bruder nicht
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