Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
verstanden, für wen dieser Baum hier steht.« Ich ging bis zu dem Birnbaum.
Sie lächelte.
»Ich glaube, du musst einfach diesen alten Birnbaum fällen.«
»Mag sein. Er trägt schon lange keine Früchte mehr. Und wenn, waren sie ungenießbar. Aber bei mir werden keine Bäume gefällt. Ich überlasse alles der Natur.«
»Der Birnbaum ...« Ich riss ein Stücke der lockeren Rinde ab. Ameisen hatten darunter ihren Bau, krabbelten mir über die Hände. Ich schüttelte mich. Sie waren plötzlich überall, in meinem Hemd, auf Brust und Rücken, krochen mir die Beine hoch. Am nackten Stamm versammelten sie sich, trugen weiße Eier hin und her.
Ich rieb mir mit den Händen über jeden erreichbaren Teil meines Körpers, um die Ameisen loszuwerden. Das Krabbeln hörte nicht auf. Ich zuckte und kratzte mich.
»Hör auf«, sagte meine Großmutter. »Das ist eine Nachwirkung meines Giftes, eine besondere Empfindlichkeit der Haut.«
Sie zog mich am Arm mit sich. »Hast du die Bauernblumen gesehen? Den Kräutergarten und meine Gemüsebeete? Da wundern sich die Nachbarn, wieso es bei mir so sprießt. Mein Geheimnis ist: Ich spreche mit den Pflanzen. Und jetzt, wo ich noch einmal heiraten will, habe ich eine besondere Pflanze zu gießen und zu pflegen.«
Sie zog mich weiter mit sich bis zu dem Platz mit der Pumpe, nahm einen halb gefüllten Eimer und goss ihn mir ins Gesicht. »Es ist genug!«, sagte sie.
Der Juckreiz ließ endlich nach. »Danke.«
»Jetzt willst du doch bestimmt deinen neuen Vater besuchen, oder? Ich werde dir etwas für ihn mitgeben. Ein Glas Quittengelee.«
»Quittengelee? Von dem kleinen Quittenbaum dahinten?«
»Ja, früher mochte er das besonders gern.«
Wir gingen in die Küche zurück. Sie gab mir ein Handtuch. Ich legte es mir um den Hals. Sie stieg auf einen Stuhl, holte aus dem oberen Fach eines Schrankes ein Glas. Es war das einzige Glas, das dort stand.
»Du opferst für ihn das letzte Glas?«
»Ich habe es speziell für ihn gemacht. Es ist tödlich. Ich sage es auch nur, damit du nicht selbst davon isst.«
Sie stellte das Glas auf den Tisch. Der Deckel war oben mit einem karierten Tuch geschmückt. Auf dem Glas klebte ein handgeschriebenes Etikett.
»Ich soll es ihm bringen?«
»Keine Sorge, es ist ein Gift, dass ihn nicht blau anlaufen oder Blut spucken lässt. Außerdem, in seinem Alter ...« Sie begann, mit den Fingern zu rechnen. »Fünfundneunzig? In seinem Alter sind die Ärzte schnell bereit, einen natürlichen Tod anzunehmen. Schon allein, um sich bei der Polizei und den Bürgermeistern nicht unbeliebt zu machen. Zu viele Morde in der Verbrechensstatistik unserer schönen und so sicheren Gemeinden schrecken die Familien ab.«
Sie setzte sich und schob mir das Glas hin.
»Wenn es jemand kann, dann du.«
Sie erhob sich halb, sah mir fragend ins Gesicht. »Ändert sich jetzt deine Einstellung, weil er dein Vater ist? Gehörst du etwa auch zu diesen jämmerlichen Menschen, die ihren gesamten Wert nur daraus beziehen, dass sie Vorfahren und Nachfahren haben? Was ist das für eine dürftige Hilfskonstruktion, zu einem Lebenssinn zu gelangen, nur weil man Glied einer Kette ist. Verbrechern entsprungen und nur wieder Verbrecher gezeugt. Hast du schon Kinder?«
»Nein.«
»Pflanzen wissen nichts von ihren Ahnen und Verwandten und lassen ihren Samen von Vögeln fressen und an unbekanntem Ort wieder herausscheißen. Sie wissen nicht, ob daraus Nachkommen werden oder nicht, und doch bilden sie, jede für sich, wunderbare Blüten, ohne einen Psychiater in Anspruch zu nehmen. Oder nimm die Tiere, Katzen zum Beispiel. Sie erkennen ihre Eltern nicht, wenn sie einmal größer sind, und haben nach kurzer Zeit keine Erinnerung an sie.«
»Schon gut, halt den Vortrag einem anderen. Ich bin wohl der Killer in der Familie.« Ich zog das Glas zu mir heran. »Wo ist ...« Ich wollte nicht »Vater« sagen. »Wo ist William Godin überhaupt? Ich habe versucht, an seine Adresse zu gelangen. Niemand hatte sie.«
»Zuletzt hielt er sich in einem Heim am Rand einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein auf, in der Nähe der Ostsee. Ich gebe dir die letzte Adresse, aber ich bezweifle, dass sie noch stimmt. Und ich gebe dir Papiere mit, die er unterschreiben soll.« Sie zog das Glas Quittengelee wieder zu sich heran. »Wenn er in die Scheidung einwilligt, kannst du das Gelee wegwerfen. Oder es trotzdem benutzen.«
Ich holte mir das Glas zurück. »Was ist das für ein Heim?«
»Ein Haus für
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