Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
fragte ich.
»Das Foto des Gebirgszuges befand sich nicht ohne Grund in seiner Sammlung.«
»Meinst du, er war dort oben in den Bergen?«
»Ich weiß es nicht. Jedenfalls hat er das Bild nicht auf dieselbe Weise interpretiert wie wir.«
»Wachse?«
Sie zuckte zusammen, rutschte fast vom Stuhl.
»Wachse, ist William Godin schon mal hierher gereist?«
»Seit ich für ihn gearbeitet habe, war er nicht in Italien. Aber ich bin nicht sicher. Ich erfuhr nicht alles. Davor wahrscheinlich.«
Die Getränke kamen. Wachse trank die Wasserflasche zügig leer. Das Zittern hielt an. Dann kam ihre Pizza. Sie schlang sie hinunter. Anschließend aß sie mit uns Spaghetti mit Muscheln. Es half nicht viel. Sie rutschte weiter unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, zitterte und bestellte als Gegenmaßnahme noch ein Stück Kuchen. Ihre Haut leuchtete in einem hellen transparenten Gelb. Eine Ader pochte am Hals.
»Du bist krank!«
»Bin ich nicht.«
Die beiden Alten waren mit dem Essen fertig und standen auf. Scotty deutete mit dem Kopf in ihre Richtung. »Vielleicht können die Frank und Martin morgen dazu bewegen, uns nicht zu folgen.«
»Ich glaube, die arbeiten bereits auf eigene Rechnung.«
Sie verließen das Lokal und stellten sich auf die andere Straßenseite. Von dort streiften uns regelmäßig ihre Blicke.
Die Promenade war ein abendlicher Treffpunkt. Immer mehr Menschen versammelten sich, spazierten auf und ab. Zwischen Meer und Straße lag ein kleiner Park. Platanen, Eukalyptusbäume, eine Bühne war aufgebaut worden, ein kleines Orchester begann zu spielen. Musik, die von einem Akkordeon dominiert wurde.
Wachse verschlang auch ihr Kuchenstück und zitterte stärker als zuvor. Ihre Glieder zuckten.
»Wir bringen dich jetzt zu einem Arzt«, sagte Scotty.
Wachse schüttelte den Kopf.
»Oder gleich ins Krankenhaus«, schlug ich vor.
»Vielleicht das.«
Wachse schüttelte sich oder wurde geschüttelt. »Da oben wird alles gut«, sagte sie. Ich konnte sie kaum noch verstehen.
»Wir sollten jetzt dort hochfahren«, fuhr sie fort. »Jetzt den Berg hoch.« Sie hatte die Arme fest um den Körper geschlungen, um sich ruhig zu halten.
»Da oben im Dunkeln in felsigem Gelände, wo es keine Wege gibt, herumzustolpern, bringt nichts.«
»Ich führe euch«, sagte Wachse. »Ich kenne den Weg.«
»Woher?«
»Ich weiß es einfach.«
»Möglicherweise hat sie recht«, sagte Scotty. »Morgen früh hängen alle an uns dran. Im Konvoi wird es den Berg hochgehen.«
»Beruhigt euch. Wir werden dort oben nichts finden.«
»Woher weiß du das?«
Ich lehnte mich zurück, trank mein Glas aus. »Es ist eine einfache Schlussfolgerung. Vielleicht war da einmal etwas. Aber die Berge wurden bestimmt bis zu dieser Höhe auch als Weide für Ziegen benutzt. Wahrscheinlich stehen da oben Bauernhöfe. Es ist ganz und gar unmöglich, dass die Erde an solcher Stelle die letzten zweitausend Jahre lang ein Geheimnis für sich behalten hat.«
Wir zahlten, und Scotty fragte einen Kellner nach dem ärztlichen Bereitschaftsdienst. Er wies uns den Weg. Es war nicht weit.
Wir mussten warten. Es gab einen Patienten vor uns. Eine dünne Blutspur führte in den Behandlungsraum. Ich ging wieder hinaus und lehnte mich draußen an die Hausmauer. Gegenüber warteten die beiden Alten. Ich nickte ihnen zu. Nach einer Weile bemerkte ich Frank. Er versteckte sich hinter der nächsten Häuserecke, schwankte leicht.
Die Frauen kamen zurück.
»Es ist nichts«, sagte Scotty. »Kein Fieber. Es könnte ein Sonnenstich sein, meinte der Arzt. Er hat ihr vorsorglich eine Spritze gegeben. Und wir müssen Tabletten aus der Apotheke holen. Die hat schon zu, aber wir bekommen die Medikamente durch ein Fenster in der Seitenstraße. Der Arzt hat uns dort schon angekündigt.«
»Ich bin vollkommen gesund«, sagte Wachse. »Ich brauche nichts.« Ihre Stimme war höher als sonst und hallte. Im Gegensatz zur Promenade waren die Straßen verlassen. Die Wände der Häuser gaben sich im Laternenlicht schäbig. Die Geschäfte verbargen sich hinter eisernen Rollläden. Hinter uns waren Franks und Martins Schritte zu hören.
»Wirklich, ich brauche die Pillen nicht«, sagte Wachse. »Es kommt von dort oben. Ich muss da hinauf. Es ist die ganze Zeit so, als guckte mich von dort oben jemand an. Es ist dieser Blick. Er geht durch alles hindurch.«
»Malocchio. Der böse Blick?«, fragte Scotty.
»Kann sein, dass ich dort oben sterbe«, sagte Wachse. »Oder etwas ganz anderes
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