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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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die mit der Zeit genauso aussehen würde? Sie verlieren ihren Wert. Das wusste ich doch.
    Aber durch Scotty schien alles anders geworden zu sein. Ich verlor an Wert! Mit jeder Sekunde. Ich war dabei, mich in den verwachsenen Glöckner von Notre-Dame zu verwandeln.
    Es wäre besser, Scotty nicht wiederzusehen. Sie hatte etwas aus mir gemacht, das ich an anderen verachtete. Liebe führt zu Kontrollverlust. Selbst der Körper verliert die Form. Das war nicht mehr ich.
    Halt! Sie ist eine Frau, die sich bezahlen lässt. Also alles in Ordnung. So ist das mit den Frauen.
    Geht das mit Liebe zusammen? Im Kino ja, in der Wirklichkeit nicht.
    Und sie sollte mich ausforschen. Grund genug, sie zum Teufel zu wünschen.
    Ich watete durch den Teer der Straßen, durch Buchstabenformationen von Menschenmengen, durch müde Gesichter voller Qualen. Das allerdings richtete mich auf. Nach einer Weile gelang es mir, an der Mimik der Menschen deren jeweiligen Schmerz zu lokalisieren. Der eine hatte ihn im Bauch, der andere im Kopf, der dritte in den Gelenken. Ich erkannte im Vorübergehen physische und psychische Marter. Beleidigte, Erniedrigte kamen mir entgegen, aber auch solche mit Zahnschmerzen, Bauchspeicheldrüsenkrebs, Leberschaden, offenen Wunden, Koliken, Krämpfen und im Todeskampf. Es gab kaum Gesunde. Ich hatte das nie vorher bemerkt. Vielleicht begann sich die Dumpfheit meiner Sinne wirklich zurückzuziehen, aber wenn das Ergebnis war, dass ich zu diesen Menschen gehörte, dann wollte ich es nicht.
    Dann kam das Bahnhofsviertel voller Menschen mit roten Haaren. Ich hatte nicht gewusst, dass es so viele davon gab. Der Barkeeper hatte recht gehabt.
    Jetzt entdeckte ich Scotty mehrmals, immer weit voraus in einer Menschenmenge, vor einem Laden oder beim Überqueren einer Kreuzung. Ich lief, schlängelte mich durch Menschenansammlungen, boxte mich durch, wurde geschlagen und getreten, nur um festzustellen, dass sie es nicht war. Nur wieder eine Unbekannte mit der Mimik der Folter, den alltäglichen Schmerzen wie all die andern auch.
    Ich begann müde zu werden, halluzinierte. Einmal schon sah ich meine Mutter in einer Boutique, sie wurde von meinem Großvater bedient, der ihr in die Umkleidekabine folgte. Ein Auto überfuhr mich fast, der Fahrer hämmerte mit beiden Fäusten auf seine Hupe, streckte den Kopf zum Fenster heraus.
    »Pass doch auf, du Idiot!«
    »Fahr doch, fahr doch!«, schrie ich zurück. »Was ist schon der Tod?«
    Hinter ihm ein großer brauner amerikanischer Wagen. Er hupte ebenfalls. Für einen Moment sah ich meinen Vater am Steuer. Mein Bruder saß tot auf dem Rücksitz. Ein abgetrenntes, blutleeres Bein neben sich.
    Ein Knall zwischen meinen Ohren wie ein Schuss, den nur ich hören konnte.

9
    »Mit einem Auge kann ich besser schießen«, sagte die Nachbarin. Sie trug immer eine Augenklappe. Sie legte den Revolver mit einer Schachtel Patronen auf den Gartentisch. Meine Mutter zählte ihr das Geld dafür in die Hand.
    Aber ich traute meinen Erinnerungen nicht. Besonders dieser glaubte ich nicht, denn ich sah die ganze Szene, als würde ich wie ein Luftballon am Band darüberschweben. Außerdem wusste ich dieses Bild nicht mit einem bestimmten Jahr zu verbinden. Wie alt war ich? Sieben?
    Und meine Mutter besaß, solange ich denken kann, schon immer eine Pistole mit einem Schalldämpfer. Sie trug die Waffe stets in der Handtasche bei sich. Sie brauchte keine neue. Und die Frau mit der Augenklappe gehörte eigentlich zum Bekanntenkreis meines Großvaters im Harz.
    Aber ich hatte dieses Bild ganz klar vor Augen: Meine Mutter schob die neue Waffe in die Tasche ihrer Schürze und ging hinein. Sie kam mit einem Tablett mit Kaffee und Keksen wieder heraus. Sie deckte den Tisch, und die Verkäuferin des Revolvers setzte sich. Meine Mutter zog an dem Band, an dem ich über ihr schwebte, holte mich herunter und machte mich los.
    »Passen Sie bloß auf«, sagte die Nachbarin, »dass er ihnen nicht eines Tages auch ein Auge ausreißt.«
    Ich lief nach hinten in den Garten. Hier hingen Zeitungsseiten mit Wäscheklammern an der Leine. Sie hatten als Zielscheiben gedient. Ich betrachtete das zerfetzte und durchlöcherte Papier, sprang hoch, um es zu erreichen. Ich muss noch sehr klein gewesen sein. Ich fiel rückwärts ins Gras, und als ich mich wieder erhob, entdeckte ich frisch aufgeworfene Erde. Es war ein Grab.
    Jetzt weiß ich es wieder. Es war nicht zu Hause in Frankfurt. Es war bei meinem Großvater im Wald. Dort

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