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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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tauchte auch an einem Ende das Daches ein Polizist auf. Er ging langsam auf meinen Onkel zu, schien mit ihm zu sprechen. Als er noch näher kam, begann mein Onkel zu schwanken. Die Menge verstummte. Vor und zurück schwankte er, bis er das Übergewicht bekam, nach vorn fiel, dabei aber seine Füße an der Dachkante verhakte. Einen Moment verharrte er kopfüber, dann griff er mit den Händen nach einer aus der Hausmauer herausragenden Stange. Von dort schwang er sich wie ein Reckturner zu einer nächsten Stange, so ging es im Zickzack über die gesamte Fassade nach unten. Und jetzt konnte jeder sehen, wie geschickt geplant alles war.
    Unten angekommen, sprang mein Onkel über die Absperrung auf die Straße und schwang sich auf die Ladefläche eines vorbeifahrenden Lastwagens. Ich glaube, der Fahrer bemerkte es nicht.
    Ein paar Zuschauer begannen zu applaudieren.
    Ich wartete noch eine Weile, ob er wieder am Dachrand auftauchen würde. Ich hatte gehofft, er würde fliegen. Ich wusste, er konnte das.

17
    »Woher wollen Sie so genau wissen, dass er sich jedes Mal umbringen wollte? Seine Kunststücke waren perfekt. Jede Bewegung war genau vorbereitet. Alles wirkte wie mit Stoppuhr und Zentimetermaß berechnet. Nie ging etwas schief.«
    Die junge Mechanikerin suchte immer noch ein Werkzeug. Sie stieß dabei mit einem Bein gegen eine der Werkbänke, kontrollierte sofort ihren Overall auf Flecke.
    »Glauben Sie mir, es war immer der reine Selbstmord.«
    »Sie waren viel zu klein, um das beurteilen zu können. Ich kann es nicht glauben. Ich kenne ihn gut aus dieser Zeit.«
    »Aber mehrmals war es kurz davor. Es ging verdammt viel schief.«
    »Ach. Und was?«
    »Vielleicht war es nicht zu sehen, sondern sah kalkuliert aus. Aber er hat es mir gesagt.«
    »Er hat Ihnen gesagt, dass er sich umbringen will?«
    »Ja.«
    »Sie kennen ihn?«
    »Ich bin seine Tochter.«
    »Seine Tochter?« Ich neigte mich vor, sah ihr ins Gesicht, um Ähnlichkeiten zu entdecken.
    »Was ist?«, fragte sie.
    »Er hat keine Tochter.« Ich lachte. »Er war nie verheiratet. Er hat keine Kinder. Und wenn er jetzt welche hätte, müssten sie jünger sein.«
    »Ist aber so.« Sie wandte sich ab, ging zu ihrem Rucksack, schnürte ihn zusammen und warf ihn sich über den Rücken. »Schluss mit dem Dreck hier! In dieser Werkstatt hat man keine Chance, man sieht immer aus wie Sau.«
    »Wenn Sie wirklich seine Tochter sind, dann sind wir verwandt.«
    Sie erstarrte, dann bog sie ihren Oberkörper zurück, ging rückwärts, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Sie drehte sich, ging wieder in die Werkstatt hinein, wühlte mit einer Hand in einem Werkzeugkasten auf dem Boden. Dann verschwand sie hinter einem Wagen. Ich ging um das Auto herum. Sie lehnte in der Hocke an einer Wand und trank aus der Bierdose.
    »Verschwinden Sie!« Sie hielt die Bierdose wie ein Wurfgeschoss.
    »Es tut mir leid. Was hab ich falsch gemacht?«
    »Hauen Sie ab!«
    Ich hob die Hände. »Schon gut. Die Familie, oder?«
    Sie wandte den Kopf ab, wollte mit mir offensichtlich kein Wort mehr sprechen.
    »Okay. Schon gut. Sie gehören wohl wirklich zu dieser Familie. Und wie mir ihr Verhalten zeigt, sind Sie als Frederiks Tochter eine echte Godin. Etwas, das ich von mir nicht behaupten kann.«
    Sie kam hoch. »Er hat meine Mutter nicht geheiratet.«
    »Das tut mir leid.«
    Sie lachte. »Er wollte nicht, dass wir zu seiner Familie gehören. Er hasste sie alle.«
    »Das kann ich gut verstehen.«
    »Nichts verstehen Sie, gar nichts.« Sie schoss mit dem Fuß ein paar leere Öldosen von sich. »Meine Mutter, die ihn so sehr liebte, durfte nicht mit ihm zusammenleben, durfte ihn nicht heiraten, damit seine Familie keinen Zugriff auf sie bekam. Meine Mutter musste sich verstecken. Musste die Beziehung zu ihm verleugnen. Sie war schwanger mit mir. Ihre eigene Familie wandte sich von ihr ab, beschimpfte sie. Und alles, damit niemals herauskam, dass ich seine Tochter bin. Immer waren wir auf der Flucht. Meist getrennt. Selten konnte ich mit ihm zusammen sein. Wenn er kam, wurden die Fenster verdunkelt. Wir durften nicht aus dem Haus. Es gibt kein einziges Foto, auf dem er mit mir und meiner Mutter gemeinsam abgebildet ist. Alles aus Angst vor seinem Vater. Aus Angst, dass ich in die Fänge dieses Mannes geraten könnte. Ein Ungeheuer. Ein Menschenfresser. Ich bin ihm nie begegnet, aber er muss ein furchtbares Monster sein. Wenn er noch lebt – müsste man ihn umbringen.«
    »Gut«, sagte ich,

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