Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
meinem Bett. Von dieser Nacht an schloss ich mich zum Schlafen in meinem Zimmer ein.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich kenne meinen Bruder. Ich bedaure dich, und zugleich bin ich froh, dass auch andere diese Erfahrungen mit ihm machen. Ich frage mich nur, ob er weiß, wo mein Großvater wohnt?«
»Er hat mir das von dem Heimaufenthalt erzählt.« Sie hatte meinen Geschenkkarton auf den kleinen Tisch zurückgelegt und probierte immer noch, ihm die alte Form zu geben. Er hielt kaum zusammen.
»Was wollen Sie von William Godin?«
»Ihn töten.«
»Oh, rufen Sie mich an, wenn Sie ihn gefunden haben, ich helfe Ihnen, damit es wie ein normaler Tod aussieht.« Sie ließ von dem Paket ab und sah mich zum ersten Mal länger an.
»Auch wenn er wirklich dein Vater ist?«
»Sie halten es immer noch für einen Witz, was? Ich studiere Medizin, so wie es mein Stiefvater wollte. Was er nicht weiß: Ich studiere es nur aus dem einen Grund – um Möglichkeiten für perfekte Morde zu finden.«
»Und wen nimmst du dir zuerst vor? Meinen Bruder?«
»Da Sie nur halbe Arbeit geleistet haben, was sage ich, gerade mal ein Bein haben Sie ihm abgehackt, werde ich wohl den Rest übernehmen müssen.«
Ich verabschiedete mich. Sie sagte nichts, rührte sich nicht. Ihr verkniffener Mund entspannte sich jetzt. Ihre Haut wurde glatt, bleich, das Gesicht zum nackten Frauenkörper. Ich beschloss, im Lexikon oder im Internet nachzuschauen, in welchem Museum das Originalgemälde von Magritte hing, um es mir bei Gelegenheit genau anzusehen. Ich wollte ihr winken, aber sie hatte die Augen geschlossen. Ich ging zu ihr zurück.
»Kann es sein, dass ich, wenn ich meinen Großvater umgebracht habe und du mir dabei hilfst, die nächste Leiche bin?«
»Ich fragte mich die ganze Zeit, wann Sie es merken. Ich sagte es schon, ich hasse sie alle. Und bisher habe ich keine Veranlassung, Sie auszunehmen.«
Sie stand breitbeinig in der Tür und hatte beide Arme zwischen dem Rahmen ausgestreckt. Für einen Moment hatte ich die Vision, unter ihrem ausgeblichenen blauen Kleid, unter ihrer Haut verbärgen sich die restlichen vier Arme, der Körper einer Spinne. Vielleicht war sie kein Mensch, sondern tatsächlich einem Experiment meines Bruders entsprungen. Aber ich fühlte eine außerordentliche Verwandtschaft.
32
»Sie wollen wissen, wo er wohnt? Ich kann Ihnen sagen, wo er arbeitet. Mit dem Wohnen ist das so eine Sache. Manche Menschen wohnen ja nicht.«
Ich hatte am nächsten Nachmittag noch einmal in Martins Büro angerufen. Der Telefonistin im Rollstuhl erschien meine Frage nach der Privatanschrift meines Bruders vollkommen absurd, und sie ließ mich plötzlich in der Telefonleitung hängen. Als Wartemusik ertönte die amerikanische Nationalhymne in einer dünnen Version. Ich salutierte schlaff.
Nach der ersten Strophe war die Telefonistin wieder dran. Sie sprach leise: »Ich habe Ihrem möglichen Gesprächspartner erzählt, dass Sie hier waren. Äh, also – Moment bitte.« Sie räusperte sich. »Wie gesagt, er lässt Ihnen ausrichten, er ist nicht da, kommt auch nicht wieder ins Büro, also nie.« Sie lachte. »Die Nachricht lautet präzise: Es sind grundsätzlich alle nicht da, die Sie sprechen wollen.«
»Wer könnte das außer ihm sein?«
Sie zischte. Dann sprach sie noch leiser und schneller: »Die Dreharbeiten sind in etwa zwei Stunden beendet. Sie können ihn abfangen, wenn Sie wollen.«
Sie legte auf.
»Wo wird gedreht?«, fragte ich trotzdem noch.
Ich hatte Evas grauen Wagen behalten. Der alte Citroen erhob sich wie ein erwachendes Tier, wenn ich den Motor startete. Ich ließ mich von ihm bis an den Stadtrand tragen und postierte mich vor dem Firmengrundstück von KS Enterprise. Ich wartete, durchsuchte das Handschuhfach nach persönlichen Dingen Evas. Aber alles, was ich fand, hätte auch jemand anders gehören können.
Als es dämmerte, stieg ich aus, ging auf den Hof. Der weiße Belag hatte sich im Abendlicht blau gefärbt. In dem Bürogebäude saß niemand mehr an der Rezeption. Die Lichter waren gedimmt. Büroschluss. Nach einer Weile wurde das große Tor der Lagerhalle ein Stück aufgeschoben; ein starker Lichtstrahl fiel heraus, fächerte sich auf dem Hofbelag in verschiedene Gelbtöne auf. Ich ging zurück zur Straße. Eine Frau im Rollstuhl wurde von einer anderen Frau aus dem Lager herausgeschoben und in einen Wagen gesetzt. Es war nicht die Empfangssekretärin.
Offensichtlich war die Lagerhalle auch das Filmstudio. Ich
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