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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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denken.«
    Sie hob die Schultern, ohne mich anzusehen. Sie wollte immer noch nicht reden. Aber sie fuhr jetzt gleichmäßig und ruhig. Ich stellte alle mir einfallenden weiteren Fragen. Keine wurde beantwortet.
    Wir erreichten das Haus. Sie parkte davor. Wir stiegen aus.
    »Du musst meine Fragen beantworten, sonst wirst du mich nicht los.«
    Sie blieb stehen, wandte sich mir zu, zog die Mundwinkel herab. Da war er wieder, der Frauenakt im Gesicht, aus dem plötzlich etwas hervorbrach: »Fragen, ha. Wissen Sie, als ich in ein Alter kam, um Fragen zu stellen, konnte ich es nicht. Ich wäre sonst tot. Dabei waren es die üblichen banalen Fragen nach dem Woher und Wohin und nach der Bedeutung von allem. Aber ich hatte keine Zeit, mir Gedanken darüber zu machen, so sehr war und bin ich von meinem Überleben in Anspruch genommen.«
    Ich war einen Schritt zurückgewichen, obwohl sie über meinen Kopf hinwegsah, als müsste sie es jemandem hinter mir erzählen.
    »Ich glaube, da kann ich mithalten. Als ich in das Alter kam, in dem jeder sich die grundlegenden Fragen stellt, hatte ich auch keine Zeit dazu. Ich war voll und ganz damit beschäftigt, vor den brutalen Erziehungsversuchen William Godins in Deckung zu gehen. Aber lassen wir das. Ich will mit dir keinen Wettkampf um das verpfuschteste Leben ausfechten, ich war eigentlich nur gekommen, um nach der Adresse meines Großvaters zu fragen.«
    »Mein angeblicher Vater?«
    Ich grinste. »Gut vorstellbar, dass er es ist.«
    »Er lebt in einem Heim.«
    »Wirklich? Wo?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Wer könnte es wissen?«
    Sie hob erneut die kräftigen Schultern und zog damit wieder ihr Kleid in die Höhe. »Ich habe keinen Kontakt zu ihm. Und ich glaube, meine Mutter auch nicht.«
    »Was geschieht mit deiner Mutter?«
    »Ich hole sie in ein paar Stunden ab. Ich kenne das schon. Alle paar Monate die gleiche Zeremonie.« Sie ließ den Kopf hängen, sah mich immer noch nicht an.
    »Ein Raumschiff kommt nie?«
    »Glauben Sie an so etwas?«
    Ich stieß die Luft aus. »Seit wann geht das?«
    »Seit etwa zwei Jahren.«
    »Als Astrologin war sie mir lieber.«
    »Mir auch.«
    Sie verabschiedete sich, ging den Weg zum Haus hinauf.
    »Da wäre noch etwas.« Ich folgte ihr. »Ich habe ein Geschenk für Ihren ... für Martin Godin abgeben lassen.«
    »Ach, das kommt von Ihnen?«
    »Ich würde es gern wieder mitnehmen.«
    Sie öffnete die Haustür, zeigte auf das Paket. »Bitte.«
    Bevor ich es holen konnte, hatte sie es schon gegriffen. Sie hob es mit beiden Armen hoch in die Luft und ließ es fallen. Der Karton platzte auf und gab den Plastikbeutel frei, an einer Seite lief Blut heraus.
    Sie sprang einen Schritt zurück. »Oh, was ist das? Ich hatte gehofft, es wäre etwas Zerbrechliches.« Sie beugte sich herab.
    »Es ist eine tote Katze.«
    »Hat er sie bestellt?«
    »Nein, es ist eine Überraschung.«
    Sie bog den Karton wieder in seine Form, legte den blutigen Plastikbeutel zurück. »Ich werde dafür sorgen, dass er dieses Geschenk bekommt.«
    »Sie mögen ihn nicht?«
    »Sie haben es immer noch nicht begriffen, was? Als ich sechzehn wurde, offenbarte er mir, ich sei das Kind meines Großvaters. Seitdem bedrängt er mich, mit seinem Vater, also meinem Halbbruder, ein hasenschartiges, verkrüppeltes Kind zu zeugen. Das soll ja funktionieren. Und ich verstand von diesem Moment an, warum er mir, schon seit ich zur Schule gekommen war, medizinische Bücher ins Zimmer legte. Ich wusste mit acht oder neun Jahren alles über Zeugung, Geburt, über Amputationen, Abnormitäten, und zwar nicht in dem Sinne, wie es in diesem Alter üblich ist, sondern im medizinischen Sinne. Ich hatte nicht nur Frösche seziert, sondern war wahrscheinlich schon in der Lage, Operationen durchzuführen, Blinddärme wären jedenfalls kein Problem gewesen, und sicher hätte ich schon als Geburtshelferin agieren können. Ich war von all diesen Themen begeistert und ahnte nicht, was er mit mir vorhatte. Ich wusste alles über Krankheiten und behandelte bereits meine Mitschüler. Hatte sich jemand verletzt oder ging es ihm nicht gut, so kam er in der Schulpause zu mir. Ich besaß Medikamente und Instrumente. Ich war stolz auf meine Kenntnisse und wandte sie an, wo ich nur konnte. Meine Mutter wusste wohl nichts von seinen Absichten. Mit dreizehn machte ich mit ihm allein eine Ferienreise nach Marokko. Mein Vater ... ich sage immer noch ›mein Vater‹, verdammt noch mal! Dieser sogenannte Vater Martin Godin hatte

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