Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
Glas im Fenster fehlte, flog zuerst der Prospekt mit den Fernsehern und dann ich hinaus. Ich spürte, dass mich die Luft trug. Ich konnte mich genauso entfalten wie der Prospekt. Gemeinsam segelten wir über dem Vorgarten. Ein Windstoß gab uns Auftrieb. Durch einfache Verlagerung meines Gewichtes steuerte ich meine Flugbahn. Ich flog auf die andere Seite des Wagens. Meine Eltern und mein Großvater zeigten nach oben und staunten über den großen Vogel.
Der Schwung drückte mich bei der Landung auf die Knie und ließ mich auf den Bauch fallen. Mit meinen Fäusten umklammerte ich meinen Spielzeugzauberstab. Er war aus durchsichtigem Kunststoff, in seinem Inneren floss eine träge grüne Flüssigkeit, in der kleine silberne Sterne schwebten. Er musste die Ursache für meine Flugkünste sein. Ich hatte immer geahnt, dass es ein echter Zauberstab war.
Ich hob den Kopf und sah unter dem Auto hindurch meinen Bruder mit seinem Bagger und seinen Autos. Ich klopfte mit dem Stab gegen das Blech. Martin sah zu mir.
»Ich kann fliegen«, sagte ich. »Mit dem Zauberstab kann jeder fliegen.«
Ich wollte ihm den Stab unter dem Auto hindurch zuwerfen, aber er blieb in der Mitte liegen. Martin versuchte, ihn zu erreichen. Je mehr er seine Arme ausstreckte, umso kürzer wurden sie. Bis schließlich nur noch seine Hände aus den Schultern ragten.
»Warte«, sagte ich. »Wir fahren das Auto weg, dann kannst du dir den Zauberstab holen.«
Mein Vater und mein Großvater saßen schon vorn im Wagen. Ich öffnete die hintere Tür und stieg ein. Mein Vater fuhr nur ein paar Meter, dann hielt er wieder an. Wir stiegen wieder aus, weil mein Vater vergessen hatte, die Spaten und Schaufeln einzuladen, um Großvaters Schatz auszugraben.
Mein Zauberstab lag auf dem Weg und war in viele Teile zerbrochen, die Flüssigkeit ausgelaufen.
Mein Bruder weinte und stampfte mit den Füßen auf. Er schrie, er wolle den Stab haben. Sein Gesicht wurde ganz rot. Schließlich legte er sich vor den Wagen, genau vor einen der Vorderreifen.
»Los«, schrie er, »fahr los!«
Ich öffnete die Fahrertür. Der Motor lief nicht mehr, aber der Wagen stand auf dem abschüssigen Stück der Ausfahrt. Ich kletterte auf den Sitz und löste die Handbremse.
Mein Vater kam aus der Garage gelaufen, hob Martin hoch und legte ihn auf die Kühlerhaube. Jetzt waren seine Glieder lang genug, um den Zauberstab zu erreichen, weil sie, wie der Stab, in viele Teile zerbrochen waren, die Haut hielt sie noch zusammen. Auf seinem Bauch war ein weiterer Mund entstanden. Ein Stück seines Darmes guckte heraus, glänzte wie eine Lippe.
Ich ging einen Schritt rückwärts und blieb stehen. Ich drehte mich um und stand am Rand eines dunklen Lochs. Mein Grab. Meine Mutter zielte mit der Pistole auf mich.
Ich schreckte hoch. Genau so war es geschehen.
Mein Brustkorb war eng.
Meine Ängste kehrten zurück.
Ich brauchte dringend eine Waffe.
DRITTER TEIL
DAS LIED DER ERDE
1
Erst vor den Auslagen des Waffengeschäfts wurde mir bewusst, dass ich keine Pistole kaufen konnte. Ich besaß keinen Waffenschein und würde keinen bekommen. Welche Gründe sollte ich anführen? Ich trat von der Schaufensterscheibe zurück. Im Gesicht blieb der Reiz, zu nahe an etwas herangekommen zu sein. Meine Haut glühte. Ich machte mich auf den Weg in mein Büro, um mich in einem Spiegel zu betrachten.
Die beiden Männer kamen aus dem Haus und grinsten mich an. Sie trugen blaue Handwerkerkittel. Ich spürte, dass sie etwas mit mir zu tun hatten, wusste aber nicht, in welchem Zusammenhang. Ich erinnerte mich nicht an ihre Gesichter.
Ich stieg die Treppe hinauf. Lacksplitter lagen wie Pfeilspitzen auf dem Boden. Der Metallrahmen meiner Tür war mit einem Brecheisen aufgebogen worden, das Schloss herausgehebelt. Mit wenigen Sprüngen war ich wieder unten. Keine Spur mehr von den beiden Einbrechern. Einer von ihnen hatte das Eisen noch in der Hand getragen.
Ich ging erneut hinauf, stieß die Tür mit der Fußspitze an. Sie öffnete sich. Die aufgesetzten Dekorplatten aus Kunststoff hatten sich abgelöst, zeigten ihr blankes Metallunterkleid. Der Einbruch musste Lärm verursacht haben.
Ich rüttelte am Treppengeländer und schrie ins Treppenhaus: »Hallo, verdammt noch mal, hat das denn keiner gehört?«
Ein Stockwerk über mir öffnete sich eine Tür, der Inhaber einer Exportfirma kam langsam herunter, betrachtete jede Stufe, bevor er einen Fuß daraufsetzte, als traute er ihr nicht. Er hielt sich eine
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