Das Jahrhundert der Hexen: Roman
im Sarg liegen.
Als er grinste, wich die junge Kellnerin, die dieses Hohnlächeln auffing, zurück. Sie musste ihn für einen Verrückten halten. Vermutlich würde sie die Polizei rufen.
Dabei könnte er jetzt im Sarg liegen. Was wohl die Gerichtsmediziner sagen würden? Selbstmord? Wahrscheinlich.
Er atmete tief durch und wartete auf den nächsten Schwindelanfall. Der Lichterfluss unter ihm … war unendlich weit entfernt gewesen. Der Flug hätte wohl eine halbe Minute gedauert. Währenddessen hätte er in die erhellten Fenster geblickt …
Wie zum Teufel konnte der Zaun auf dem Dach durchgebrochen sein?!
Ein Zufall. Ein willkürliches Zusammentreffen. Jeder, der auf ein Dach steigt, sollte an die Erdanziehungskraft und die Zerbrechlichkeit der eigenen Knochen denken. Er war ja selbst schuld …
Aber dreimal hintereinander?!
»Sie sind Njawken. Leere Hüllen von Menschen … Das sind keine Menschen … Es ist, als ob dein Mörder in der Maske einer schönen Frau zu dir käme. Oder, noch schlimmer, in der Maske deiner Mutter.«
Er betrachtete seine Finger, deren Knöchel durch den todbringenden Griff um das schmale Glas weiß hervortraten. Viel fehlte nicht – und hier würde eine Handvoll blutiger Scherben liegen. Warum tat er das?
Kaum hatte er die Macht über die eigene Hand zurückerlangt, stellte er das Glas behutsam auf der hellen Tischplatte aus Marmorimitat ab.
Er hatte Angst. Hatte Angst, empfand Schwermut. Und nicht ein Funken von dem Gefühl war in ihm zurückgeblieben, das er in den letzten Monaten für Glück gehalten hatte. Für ein Ersatzglück. Eine Art stellvertretendes Glück.
Er brauchte ja nicht wieder in diese Wohnung zu gehen. Er konnte sie vergessen. Djunka – oder diejenige, die er für Djunka zu halten gelernt hatte – hatte kein Essen nötig. Sie hatte überhaupt nichts nötig …
Abgesehen von ihm, Klaw. Seine Anwesenheit war für sie lebensnotwendig. Mehr als einmal hatte sie das erwähnt, und auch er selbst hatte es gesehen, wenn er nach einer langen Zwangspause wieder bei ihr erschienen war und ihr Gesicht bleich und hohlwangig aussah, wenn ihr Körper leblos und abgemagert schien.
Er presste die Zähne aufeinander. Was war das? Ein Tauziehen? Er zog sie zu sich, ins Leben, während sie …
»Njawken verkehren in der Regel mit Menschen, um diese umzubringen. Gewissermaßen um die Chancengleichheit wiederherzustellen.«
»Wollen Sie noch etwas bestellen, junger Mann?«
»Ja. Noch einen Saft. Und … zweihundert Gramm Kognak.«
Die Frau wunderte sich nicht im Geringsten. Klaw wirkte offenbar wie ein Mann, der es gewohnt war, Kognak aus Teegläsern zu trinken.
Was, wenn er sie aufgab? Wenn er Djunka der Einsamkeit überließ? In der abgeschlossenen Wohnung?
Plötzlich meinte er in dem alten Mann, der am Tisch gegenüber saß, den Tröster vom Friedhof wiederzuerkennen. Das müde Allerweltsgesicht. Der eindringliche Blick unter den zusammengezogenen Augenbrauen. »Ich bin nur ein Lum. Ich tu, was ich kann.«
Klaw blinkerte. Nein, dieser Alte war ganz anders. Ein pausbäckiger, ihm unbekannter Mann.
Er kippte seinen Kognak wie Medizin herunter – und erstickte beinah daran. Zum Glück klopfte ihm jemand kräftig auf den Rücken. »Du solltest ein anständiges Getränk nicht so herunterstürzen, mein Junge!«
Klaw war noch immer nüchtern. Er drehte den Kopf …
… und erschrak nicht. Wie einem alten Bekannten nickte er dem Tschugeist zu.
Von ihm ging ein Geruch nach feuchtem Fell aus. Klaw schüttelte den schweren Kopf, wischte sich die Tränen aus den Augen. Wenn der Tschugeist in seiner Fellweste in den Regen kam, würde er vermutlich wie ein Wolf riechen. Aber es regnete gerade nicht, und außerdem handelte es sich um Kunstpelz.
Sie alle waren offenbar gerade erst reingekommen. Sie hatten einen Ecktisch mit Beschlag belegt, weswegen Klaw, der einsam seinen Kognak schluckte, sie nicht bemerkt hatte. Jetzt beobachteten ihn drei vom Tisch aus, während einer vor Klaw stand …
Sie waren sich schon über den Weg gelaufen. Genau ihm war er schon einmal begegnet. Nur zerfloss jetzt sein Gesicht, außerdem schaffte Klaw es nicht, die auseinanderstiebenden Gedanken zu bündeln und sich zu erinnern, wo genau und auch worüber dieser lange, schlaksige Kerl da mit ihm, Klaw, geredet hatte.
»Ist dir nicht gut? Brauchst du Hilfe?«
Nach Klaws Ansicht hatte sich sein Kopf in den Erdball verwandelt, so schwer war er ihm, so unaufhaltsam drehte er sich.
Und es ließ sich
Weitere Kostenlose Bücher