Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
Vom Netzwerk:
Linien umsponnen sie. Kein Geräusch entstand, keine Berührung kam zustande, als Grashalme wegknickten, hohe Stängel, die sich in den Himmel bohrten. Sie rannte über eine Wiese, in ihrer Hand, fest in ein Bündel eingeschnürt, lag etwas Lebendiges, das mit den Flügeln schlug. Ein Vogel.
    Sie wollte sich das nicht weiter ansehen. Voller Wucht schlug die Angst über ihr zusammen: wie ein Schwimmer, der sich vom Boden abstößt, nach oben schnellt, zur Sonne.
    Die Sonne. Nicht warm, aber blendend grell, schmerzte sie in den Augen. Ein kahler Hügel, ohne jedes Gras. Von ihren Händen tropfte eine ölige Flüssigkeit.
    Nein, das war nicht die Sonne, sondern der Mond, rund und dick wie ein Fass. Im Schatten schief stehender Bäume krümmte sich ein Haus. Nach wie vor fehlte jeder Laut, ihren Platz nahmen Gerüche ein. Es roch stark nach Dung, schwächer nach verfaultem Holz. Und kaum noch wahrnehmbar nach Metall – denn sie hielt ein spitzes Messer in Händen. So mühelos drang die Schneide ins Holz, als handle es sich um lockere Erde. Liebevoll fuhren ihre Hände über den Griff. Seltsame, ungewohnte Bewegungen …
    Der Messergriff wurde feucht. Und warm.
    Ein tropfendes Geräusch.
    Weiße schwere Tropfen fielen in einen Blecheimer. Es war ein Melkeimer. Immer schneller arbeiteten ihre Hände. Was tat sie da? Ein rhythmisches Ziehen und Pressen. Sie melkte den Griff des Messers … Melkte … Von ihren Fingern tropfte Milch, pladderte in den Eimer und schwappte manchmal über ihre Ärmel.
    Obwohl ihr die Finger lahm wurden, vermochte sie nicht aufzuhören. Berauscht war sie, verlangte nach mehr, immer mehr …
    Die Milch versiegte. Zischte nicht mehr in Strömen, tröpfelte kaum noch, füllte den Eimer nur mit Mühe …
    Wieder spürte sie die Wärme. Die satte Zufriedenheit. Eine warme Flüssigkeit netzte ihre Hände, keine weiße, sondern eine schwarze.
    Schwarze Tropfen fielen in den vollen Melkeimer.
    Rote Tropfen. Ihre Händen wurden klebrig.
    Angst keimte auf.
    Sie hörte den eigenen Schrei nicht.
    Ihre stumme Angst roch. Sie roch nach Eisen.
     
    Wieder behielt er sie über Nacht bei sich. Letztlich war es ihm gleich, was man von ihm dachte. Vor allem angesichts des letzten Gesprächs mit Seiner Durchlaucht, dem Herzog.
    Der Herzog wusste viel, zum Glück jedoch nicht alles. Seit geraumer Zeit schon befleißigte sich Klaw einer doppelten Buchführung. Das war zwar heikel und infam, doch wenn der Herzog – schlimmer noch die Allgemeinheit – die wahren Zahlen wüsste …
    Nachdem er die Berichte aus den Provinzen für die letzten drei Tage gelesen hatte, presste Klaw die Lippen zusammen und befahl Hljur, die Angaben zu überprüfen.
    Es stimmte alles. Hexensabbate waren gefeiert worden, von denen sie vorab nicht einmal etwas geahnt hatten, Initiationen im großen Maßstab hatten nicht verhindert werden können. Schwerer noch wog allerdings die hohe Zahl von Todesfällen, auf die sie sich keinen Reim machen konnten.
    Irgendwann rief Fedora an. Ein Ferngespräch aus Odnyza.
    Klawdi presste die Zähne aufeinander. Einen schönen Beichtvater hatte sie sich da ausgesucht, einen fürwahr vortrefflichen Beschützer! Ausgerechnet diese starke und unerschrockene Frau. Ein Monolog, gespickt mit »wenn einer was weiß, dann du«, »wenn einer das wieder ins Lot bringt, dann du«, »wenn einer unseren Schutz garantiert, dann …« und als Zugabe: »Kann ich zu dir kommen?«
    Klawdi kratzte sich das Kinn.
    Morgen früh würde in Wyshna der Rat der Kuratoren zusammentreten. Wer wohl den Brandgeruch bereits gewittert hatte? Genauer: Wer ihn wohl bisher noch nicht gewittert hatte? Wer wohl gegen den Großinquisitor auftreten und ihn bezichtigen würde, ein Protektionist zu sein, ein tödliches, verantwortungsloses und geschmackloses Spiel zu spielen?
    Wobei: Im Grunde war selbst das ihm egal. Er wusste ohnehin, wer das sein würde. Der frisch eingesetzte Kurator von Rjanka war ihm treu ergeben, aber Mawyn, der Kurator von Odnyza, fürchtete ihn; mit dem Kurator von Egre verband ihn wiederum eine alte Freundschaft. Den Kurator von Bernst hatte er wiederholt abgekanzelt, und auch den Kurator von Korda hatte er erst vor Kurzem öffentlich für sein – wie Klaw meinte – ganz und gar eindeutiges, wiederholtes Versagen gedemütigt. Der Kurator von Altyza war ein junger intelligenter Mann, der sich stets auf die Seite des Stärkeren stellte – bis er selbst als solcher anerkannt wurde. Sein stärkster Gegner im Rat war der

Weitere Kostenlose Bücher