Das Jahrhundert der Hexen: Roman
du ausgehen. Und jetzt an die Arbeit!«
Er nahm der Hexe das zerknitterte karierte Taschentuch aus der Hand und tupfte ihr sanft und ohne jeden Ekel die blutigen Lippen ab.
Das Verhör endete gegen Morgen. Ywha fühlte sich, als habe sie in der Kanalisation gebadet.
Die junge Hexe war von Leidenschaften zerfressen. Die Motive der Menschen hielt sie für einen warmen Brei, ähnlich jener Brühe, die sich nach einem Regen am Grund aufgegebener Baugruben sammelt.
… In – warum auch immer – schwarz-weißen Bildern sah Ywha riesige Menschenmengen vor sich. Ein Geflecht aus Gerüchen und Geräuschen, ein zerrissenes Netz aus Stimmen. Sich in innerer Anspannung krümmend, legte Ywha unsichtbare Hände auf die Menge. Sofort spürte sie, wie die in Panik erstarrten Figuren ihre Haut reizten. Sie schloss die Finger ein wenig, um sie dann wieder zu spreizen. Kaum vermochte sie den Wunsch, die Faust zu ballen, zu unterdrücken. Aus diesem Balanceakt an der Grenze der Ekstase zog sie ein unfassbares Vergnügen.
Dann endete alles. Jetzt war sie ein Kind, genauer gesagt, gleichzeitig mehrere Kinder. Ein Mädchen im weißen Ballkleid, das mitten in einem leeren Saal stand; ein nackter Junge, ein Baby, in der undurchdringlichen Dunkelheit eines riesigen Zimmers und ein bis auf die Knochen durchgefrorener Teenager in klatschnasser Kleidung. Und anscheinend, o ja, anscheinend noch jemand … Das Mädchen ging, die Füße in den engen Schuhen vorsichtig setzend, und lauschte auf die Stille, wartete angespannt auf einen Ruf. Der Junge krabbelte stur über den kalten und glatten Fußboden, da er vor sich etwas Warmes spürte. Und der Jugendliche stapfte knietief durchs Wasser, voller Hoffnung, am Horizont endlich Licht zu sehen.
Ywha weinte sehnsüchtig. Das Warten zog sich quälend und überlang dahin.
Irgendwann brach sich Begeisterung in ihrem Innern Bahn, explosionsartig, wie eine Leuchtpatrone. Und Funken rieselten vor ihren Augen herab.
Das Mädchen im Ballsaal zitterte in Vorfreude. Gleich würde sie eine vertraute Stimme hören und, sich an ihrem Lachen verschluckend, dieser entgegenstürzen. Der kleine Junge schrie freudig auf, er würde gleich auf eine warme Brust voll wohlschmeckender Milch treffen. Der verzweifelte Teenager blinzelte; gleich würde er in der Ferne eine Fackel erblicken, die gelbe Lichter auf die ölige Oberfläche des Flusses warf.
Ywha riss sich frei, versuchte aus der Welt der verhörten Hexe herauszukriechen, doch die Vorfreude auf ein absolutes Glück, das in diesem Augenblick das Mädchen, den Jungen und den Teenager erfasste, raubte ihr jeden Willen. Absolutes Glück gibt es nicht, jedenfalls nicht außerhalb dieser Welt. Weshalb sollte sie also fortrennen, wenn sie doch bleiben konnte? Wenigstens einen Moment noch. Um abzuwarten.
So entspannte sie sich und war bereit, sich der Welt jener Hexe zu überlassen. Aber jemand, der die ganze Zeit außerhalb dieser Welt ausgeharrt hatte, riss sie abrupt in ihre eigene windgepeitschte Welt zurück.
»Ich habe versucht, mein Handwerk aufzugeben. Stets wusste ich, wie undankbar, grausam und schmutzig es ist. Indes, ich bin dafür geboren wie kein Zweiter. Letztlich muss jemand die Latrinen säubern, andernfalls ertrinkt die Welt in Unrat.
Seit einigen Tagen verfolgt mich der Geruch von Rauch, der Geruch eines Holzfeuers.
Ich brachte den Kauf eines Landguts zum Abschluss. Das wird mir Sorgen und Kosten eintragen, doch liegen dort eine Wiese und ein See, und, so Gott will, werde ich Karpfen züchten und Lilien pflanzen. Möglicherweise verlangt es mich schlicht nach Ruhe, ich möchte von Bienen umgeben sein, die über dem Blütenstand summen.
[…] Denn ich, und nur ich, habe mein Tun vor dem göttlichen Thron zu verantworten. Die Flüche meiner Herrinnen, der Hexen, setzen mir zu wie Grind, und mein Leid wird mir bald als Verdienst anerkannt, bald zur Last gelegt.«
Der Inquisitionspalast schien ausgestorben. Nur die Dämmerung gab es, die durch die hohen vergitterten Fenster sickerte, um fünf Uhr morgens. Der Fahrstuhl schlummerte in seinem Eisenkäfig, auf dem Geländer dieses ewig verrauchten Treppenhauses lag, sobald man einen Absatz erreichte, eine kleine weiße Schneewehe kalter Zigarettenasche.
Vermutlich kam Ywha sein Wunsch, zwischen zwei Etagen, im Halbdunkel der langen Wendeltreppe, innezuhalten, seltsam vor. Sie ließ sich ihre Verwunderung jedoch nicht anmerken. Und er wollte schlicht und ergreifend sein Büro nicht
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