Das Jahrhundert der Hexen: Roman
Weltengebäude, wie wir es kennen, bliebe unverändert immerdar?
Wenn ich so weitermache, bezichtigt man mich noch der Aufwiegelung.
Meine Herrinnen – die Hexen – wollen das Weltengebäude nicht umgestalten. Wie der Wolf, der in einem Gehege mit den Hühnern lebt, auch nicht die Welt verändern will, in der er lebt, sondern ihr einzig das lebensnotwendige Futter entnimmt.
Ein schmerzlicher Schatten lastet auf meiner Seele. Ich weiß nicht, was das Morgen bringt …«
Am Abend begann der Sturm auf die Bahnhöfe.
Angeblich hatte eine Wahrsagerin, die seit einem halben Jahrhundert ihren feuchten Keller am Stadtrand Wyshnas nicht verlassen hatte, mit Gewissheit prophezeit, es werde ein Jahrhundert der Hexen heraufziehen – was für den Durchschnittsbürger dem Ende der Welt gleichkam. Angeblich wussten hohe Staatsbeamte seit Langem davon und hatten Vorbereitungen getroffen, ins Exil zu gehen. Angeblich zählte zu den Geliebten des Großinquisitors auch die Mutterhexe selbst.
Den beschwichtigenden Versicherungen der Fernsehkommentatoren schenkte niemand mehr Glauben. Vielleicht, weil selbst in ihren professionell gütigen Augen tief unten die Panik lag? Alle Nachrichten, selbst aus den entferntesten Ländern, ähnelten in frappanter Weise den Ereignissen in der Wyshnaer Metro.
Eine Fahrkarte dritter Klasse kostete ein Vermögen. Auf den Bahnsteigen weinten die Kinder, die aus der Stadt evakuiert werden sollten; fast durch die Bank verspürten sie in diesen Tagen eine unbestimmte Angst, und viele von ihnen, darunter auch brave Schulkinder, wachten nachts schreiend auf und hatten eingenässt. In den Straßen stauten sich Autos und Busse. Das sommerliche Wyshna leerte sich im Handumdrehen.
Schwarzer Rauch wogte durch die Straßen. Die verfluchten Ballons, die an dem traditionellen Rennen teilgenommen hatten, waren am Stadtrand abgestürzt und hatten ganze Bezirke niedergebrannt. Die Feuerwehr Wyshnas war Tag und Nacht im Einsatz. Die Brände ließen sich nicht löschen, die Flammen loderten, kaum eingedämmt, immer wieder auf. Aus der Einsatzzentrale schwirrten in alle Richtungen weiße Krankenwagen aus.
Nachdem auf einer Sitzung des Staatsrats Demonstrationen und Versammlungen verboten worden waren, jagte man die Menschen, die vor dem Inquisitionspalast ihre Sicherheit einklagten, mit Wasserwerfern auseinander.
Die Natur, die das menschliche Tohuwabohu anfangs gleichmütig verfolgt hatte, entschied sich irgendwann, einen eigenen Beitrag zu den Ereignissen zu leisten. Mitten im Sommer, der sich zwar auch zuvor schon kühl und verregnet gezeigt hatte, brach plötzlich eisige Herbstkälte aus. Die ahnungslosen Juliblumen verwelkten über Nacht unter Raureif.
Der Herzog bestätigte den Beschluss des Staatsrats über die Ausrufung des Ausnahmezustands. Klawdi Starsh unterschrieb einen Befehl zur ausnahmslosen Verhaftung aller Wishnaer Hexen.
Einheiten der Verkehrspolizei stellten unter Anleitung der Inquisition an sämtlichen Kreuzungen Steine mit dem Zeichen des Hundes auf. Aus der zentralen Steinmetzerei der Stadt wurden sämtliche Grabsteine abtransportiert, damit sich in den Kellern des Palasts fünf qualifizierte Inquisitoren schichtweise darüber hermachten. Das Zeichen sollte die Kraft der Hexen brechen. Die Stadt, gespickt mit diesen Steinen, erinnerte schon sehr bald an einen riesigen Friedhof. Klawdi gab sich bezüglich des Nutzens dieser Maßnahmen keiner Illusion hin. Dies mochte den Hexen vielleicht gewisse Unannehmlichkeiten bereiten – mehr jedoch auch nicht.
Die verhafteten Hexen wurden in geschlossenen Lastern abtransportiert. Das galt allerdings nur für die nicht initiierten. Die aktiven wurden in der Regel innerhalb von vierundzwanzig Stunden hingerichtet. Die Wachtposten verlangten für das Risiko eine Prämie, denn in zwei hintereinander erfolgten Fällen von Flucht waren drei Männer getötet und vier weitere verstümmelt worden. Die Henker verlangten Verstärkung, Panzerwesten und ebenfalls Prämien. »Es kommt euch billiger, jetzt etwas zu geben, als unseren Familien später Renten zu zahlen.«
Der Finanzminister quittierte alle Geldforderungen mit dem Stinkefinger. Klawdi musste die Zähne aufs Bösartigste blecken und den Herzog als Zeugen herbeizitieren. Die Finanzierung erfolgte, aber Klawdi empfand weder Freude noch Genugtuung. »Nun, da die Mutterhexe so nahe ist, dass ich, ihren Geist witternd, keinen Schlaf finde. […] Und noch heute wird sich um ihren Hals die eiserne
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