Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
Vom Netzwerk:
der Tribüne sperrten die Münder auf, denn der Habicht schien den halben Himmel einzunehmen; die anderen Ballons wirkten neben ihm so winzig wie Perlen.
    »Schau doch nur!«, wiederholte der Alte. »So was habe ich noch nie …«
    Erstaunt verstummten sämtliche Tribünen.
    Zu seltsam führten sich die Ballons auf. Einer sank in einer wirbelnden Spirale. Ein anderer erzitterte, bis sein Korb schaukelte; die Besatzung klammerte sich krampfhaft an den schwankenden Wänden fest. Ein dritter zog sich zusammen und wurde ganz flach, ein vierter nahm eine Zapfenform an, ein fünfter drehte sich wie ein Kreisel, schneller und schneller, ungewöhnlich schnell, und die Reklamebänder flogen abgespreizt um ihn herum wie die Sitze eines Kettenkarussells.
    Der Habicht wuchs weiter. Der Kommentator schwieg. Der Alte riss den Blick vom Himmel.
    Auf dem grünen Feld stand der Vertreter der Gesellschaft der Luftschiffer, sein Gesicht war tellerweiß, in Panik verzerrt.
    Nervös zuckte der Alte zusammen. Er wandte sich seinem Enkel zu, weshalb ihm auch alles weitere entging.
    Dabei wäre der Anblick lohnend gewesen.
    Kurz bevor der Habicht explodierte, knisterte er noch wie Papier, sofort danach platzte er, um über den gesamten Himmel brennende schwarze und rote Klümpchen zu verteilen.
    Die Tribünen verharrten einige Sekunden in Stille.
    In vollständiger Stille, in der ganz überflüssigerweise das Orchester schmetterte. Dann verstummten nach und nach die Blechinstrumente. Als hätte er auf diese Pause gewartet, ging ein weiterer Ballon in Feuer auf, einer aus dem Ausland, ein grüner mit Silberzier; Feuerbällchen rieselten auf die Köpfe der erstarrten Menschen.
    Dann legte der Wind los.
    Er fing das Klagelied auf, das gleichzeitig allen Kehlen entströmte, verwandelte es in eine Windhose und schleuderte es in die Höhe – zusammen mit den noch verbliebenen Ballons, die sich inzwischen nicht mehr kontrollieren ließen. Wie Spielzeug für den Tannenbaum funkelten sie, und genauso zerbrechlich waren sie. Auf dem Rasen, der sich noch an die vorhin abgenommene Parade erinnerte, schlug der ausgebrannte Korb mit der Besatzung des Habichts schwer auf, wirbelte dabei Erdbrocken los und riss Grasballen mit Stumpf und Stiel aus. Erst da, erst in diesem Moment schnellten die Menschen von den Sitzbänken hoch.
    Die Kette der Polizisten, die dieses Geschehen genauso erschütterte wie alle übrigen Zuschauer, die Kette dieser mit Waffen behangenen Polizisten also, hielt ganze fünfzehn Sekunden stand. Dann brachen die Menschen, einander erbarmungslos schubsend, durch.
    Der Alte glaubte beinahe, er allein würde nach oben schauen. Er allein würde sehen, wie die Ballons von einem Wirbelwind erfasst wurden. Schon eine halbe Minute später schienen sie weit weggetrieben, schienen sie über der Stadt, über den Wohnvierteln zu hängen, wo sie im gleichmäßigen Takt einer nach dem anderen explodierten, sich in lodernde Klumpen verwandelten und herabfielen.
    Klar sah der Alte den Hof ihres Wohnhauses vor sich. Den jüngsten Enkel in dem blauen Kinderwagen und seine Tochter, die wie gewöhnlich Windeln auf dem flachen Dach aufhängte. Aus heiterem Himmel würden Feuer und Tod über sie hereinbrechen …
    Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
    Ein starker Herzschmerz und die anschließend eintretende Ohnmacht raubten ihm die Möglichkeit, das Geschehen weiter zu verfolgen.
    Der Großinquisitor von Wyshna, der später die Liste der Toten durchging, überlas den Namen von Herrn Fedul, dem seinerzeit berühmten Direktor der Wyshnaer Schule Nr. 3. Was der Großinquisitor wohl empfunden hätte, wenn er den Namen in dieser traurigen Aufstellung entdeckt hätte? Doch das tat er nicht – dazu war sie zu lang.
     
    »Ein Übermaß an Gewürzen verdirbt ein Gericht, gleichsam wie ein Übermaß an Frohsinn bisweilen einen Jüngling verdirbt. Und meine Köchin weiß doch, wie zuwider mir der Geruch von Kümmel ist.
    Meine Herrinnen hegten nie die Absicht, einen Mord zu begehen, einzig darum ging es ihnen stets, Verwirrung zu stiften. Freilich inszenierten sie dafür eine Farce, die einem nun das Blut in den Adern gefrieren lässt. Spielen sie mit den Menschen, wie es die Katze mit der Maus tut? Oder schöpfen sie lediglich Kraft aus der Angst des aufgelösten Volks? Denn meine Herrinnen werden stärker mit jedem Tag, derweil die Menschen aus der Stadt fliehen, sich im Wald und in Höhlen verkriechen, ganz wie die Tiere.
    Indes, wer will behaupten, das

Weitere Kostenlose Bücher