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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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»Straßenbahnerin« für Klawdi fingen, jene ehemalige Stripperin aus dem Nachtclub Trolle , hinter der der Inquisitor selbst in dem Auto mit der zersplitterten Windschutzscheibe hergejagt war und die er aus gutem Grund verdächtigt hatte, die …
    Auf diesen Gedanken hatte ihn erst der silbrige Schal gebracht, den sie gewiegt hatte. Die Mutter, eine Wiege … Die Mutterhexe! Die ungeborene Mutter. Oder war sie inzwischen bereits geboren?
    Mit einem schiefen Lächeln begrüßte sie ihren Feind, den sie schon einmal ausgetrickst hatte. Sie war eine Schildhexe von nie da gewesener Stärke. Mit einem fünfundachtziger Brunnen. Mit einer eisernen Abwehr und der professionellen, artistischen Schamlosigkeit einer Nachtclubtänzerin.
    »Deine Mutter hat sich von dir losgesagt, Any.«
    Nein, damit brachte er sie nicht aus dem Konzept. Keine Sekunde. Als Antwort schenkte sie ihm nur ein weiteres Lächeln, dieses Mal ein verächtliches.
    »Warum hätte sie sonst zugelassen, dass du mir in die Hände fällst? Du wirst noch heute sterben, Any. Dein Scheiterhaufen ist bereits aufgeschichtet.«
    Weder Angst noch Verzagtheit.
    »Wo ist deine Mutter, Any? Wo ist denn deine großartige Mutter? Zeig mir den Weg zu ihr. Sie wird doch nichts dagegen haben.«
    »Willst du das so sehr?«
    In der Stimme der Hexe schwang ein Oberton mit, der die Wächter in ihren dunklen Ecken lautlos verkrampfen ließ. Die Stimme drang ihnen durch die Haut, schwächte sie, schüttelte sie und spottete über sie.
    »Du wirst sterben, Großinquisitor.«
    »Wir alle werden sterben.«
    »Alle werden sterben, aber du zuerst. Im Feuer. Unsere noch ungeborene Mutter wartet auf dich. Sie wird warten …«
    »Wartet sie oder sammelt sie noch ihre Töchter?«
    »Das verstehst du doch nicht. Denn du gibst dich mit dem zufrieden, was du mit eigenen Augen siehst. Du tust mir leid.«
    Zur Bestätigung ihrer letzten Worte lächelte sie tatsächlich mitleidig. Schweigend. Und sie würde – das stand für Klawdi unwiderruflich fest – bis zu ihrem Tod kein Wort mehr hervorbringen.
    Fünf Minuten nachdem Klawdi den Bericht über den Tod der Stripperin auf den Tisch bekam, geschah noch etwas Seltsames.
    Sein Referent stürmte mit unangemessener Hast ins Büro. Allein aufgrund des fiebrigen Glanzes in seinen Augen wusste Klawdi, dass es um etwas Außergewöhnliches gehen musste.
    »Patron … da ist … zu Ihnen … Seine Durchlaucht, der Herzog …«
    Angeekelt linste Klawdi zu dem überquellenden Ascher, ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, in dem Rauchschwaden hingen, als spännen sich graublaue Stoffbahnen quer hindurch. Kein Herzog von Wyshna hatte je diesen Raum betreten, kein Großinquisitor war bisher zu dieser Ehre gekommen – falls man das denn für eine Ehre hielt.
    Er erhob sich, um seinem Gast entgegenzutreten, wobei er sich bemühte, die Balance zwischen der eigenen Würde und dem nötigen Respekt zu wahren. Aus seinen, Klawdis, Adern hätte man nicht ein einziges Glas jenes adligen Blutes abzapfen können, das so reichlich durch den Herzog floss. Seine Durchlaucht war groß, hielt sich etwas krumm, hatte leicht hängende Wangen und tiefe Augenhöhlen. Am Grund dieser Höhlen, die Klawdi an eine in die Erde gehauene Fallgrube erinnerten, saßen giftige, strenge Raubtieraugen.
    »Sie rauchen zu viel, Herr Großinquisitor.«
    Was für ein verheißungsvoller Auftakt des Gesprächs!, dachte Klawdi finster. Klingt ja fast inoffiziell. Oder wie ein deprimierter Vater, der die Misserfolge seines Sohnes in der Mathematik satt hat. Ist nicht für morgen eine außerordentliche Sitzung des Kuratorenrats anberaumt? Dergleichen hat es früher schon mal gegeben, auch da sind heimlich Einladungen verschickt worden, ohne dass der Großinquisitor davon erfuhr, der dann, eines schönen Tages vor die unnachgiebigen Kollegen zitiert, feststellen musste, dass der hohe Stuhl auf wundersame Weise unter seinem Hintern weggezogen worden war.
    Nachdenklich sah sich der Herzog im Büro um. Als sein Blick auf die drei Geständniszeichen stieß, atmete er tief aus. Er hustete, vermutlich wegen des Tabakqualms. Seufzend stellte Klawdi die Klimaanlage ein.
    Wer kam als sein Nachfolger in Frage? Der Kurator aus Rydna, den man vor fünf Jahren übergangen hatte, um Starsh seinen Karrieresprung zu gönnen?
    Weshalb zerbrach er sich darüber den Kopf? Und wieso hing er so an dieser bedrückenden Macht, wenn das Ende der Welt ohnehin vor der Tür stand? Denn man musste die Dinge beim

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