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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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glücken.
    »Lass dich nicht unterkriegen.«
    Neben ihm stand ein junger Mann, einer der Besitzer des Autoreifens. Seine Freunde beluden in aller Ruhe ihre Motorräder.
    »Lass dich nicht unterkriegen. Du weißt doch, wie die Frauen sind. Wenn du einmal nicht nach ihrer Pfeife tanzt, spielen sie prompt die beleidigte Leberwurst.«
    »Aber wir haben uns gar nicht gestritten«, bemerkte Klaw, selbst verblüfft darüber, dass er sich überhaupt auf ein Gespräch mit diesem aufdringlichen Kerl einließ.
    »Eine Klassefrau«, erklärte der Typ völlig aufrichtig und ohne jede Geringschätzung. »Meine Freundin ist auch nicht schlecht, aber deine … echt stark …«
    Zehn Minuten später heulten die Motorräder auf. Die noch anwesenden Datschenbesucher blickten ihnen verdrossen nach. Klaw tigerte am Wasser auf und ab.
    Warum tat sie ihm das an? Wusste sie denn nicht, was für Sorgen er sich machte? Jetzt war es schon bald sieben Uhr. Ausgerechnet heute Morgen war er versehentlich auf seine Uhr getreten, die seitdem stand.
     
    Still steht die Uhr, stumm,
    Schon stirbt mein Name, verlischt.
    Golden schimmert eine Blume in der Welt aus Stahl,
    Tönern schlägt die Stunde und stumm steht die Uhr.
     
    Die prätentiösen Zeilen ließen ein beklommenes Gefühl in ihm aufsteigen. Er konnte sich nicht erinnern, wo er sie überhaupt gelesen hatte. In einer Zeitschrift? In einem Buch? Oder hatte Djunka sie ihm vorgetragen? Sie hatte diese Angewohnheit, mit geheimnisvoller Miene Vierzeiler vorzulesen und mit großen Augen auf Klaws Reaktion zu lauern.
    Die Volleyballspieler am anderen Ufer verschwanden hinter den Kiefern. Als Letzte brach die halbnackte, dünne Frau auf. Der Ball in ihren Händen sprang auf und ab, als lebe er.
     
    Als die Dämmerung hereinbrach, beschloss er endlich, den leeren Strand zu verlassen. Djunkas Kleidung ließ er zurück. Sie mitzunehmen hieße, daran zu glauben.
    Djunka wird schon noch kommen, redete sich Klaw immer wieder ein. Djunka wird kommen – und dann fände sie ihre Sachen nicht. Sie konnte doch nicht im Badeanzug nach Hause gehen, oder? Schließlich war die Nacht kühl.
    Er trabte im gemäßigten Tempo dahin, und als er dennoch außer Puste geriet, wechselte er in Schrittgeschwindigkeit. Nur kurz anrufen würde er und dann gleich zurückkommen. Djunka würde sich die Haare auswringen und ihn aufgebracht anfahren: Warum hast du nicht auf mich gewartet?
     
    Das Polizeirevier war verraucht. Graublauer Qualm hing über den Holztischen, über den Schränken und Bänken, über der leeren, einsamen Zelle in der Ecke, eingerichtet für alle diejenigen, die sich etwas hatten zuschulden kommen lassen.
    »Wiederhol den Namen, vollständig.«
    »Dokija Sterch … Siebzehn Jahre.«
    »Und ihr habt euch wirklich nicht gestritten?«
    »Nein. Sie … sie hätte so etwas nie gemacht. Sie …«
    »Beruhige dich.«
    Er schloss die Augen. Zum x-ten Male: Beruhige dich. Hier waren alle ruhig, hier heulten jede Nacht Leute, während andere lautstark fluchten, hier roch es sogar durch den Rauch hindurch nach Eisen und Schweiß, hier war es unerträglich stickig.
    »Wyshnaer Schule Nr. 3 … Wohnheim. Zimmer 74 …«
    Es läutete. Noch einmal. Durch die Scheibe war kein Ton zu hören. Eifrig bewegten sich Lippen.
    »Was hatte sie an?«
    »Hä?«
    »Was hatte sie an?«
    Djunkas Sandalen lagen da, unter einer Schicht Sand begraben. Sorglos hatte sie die Shorts auf die Strandmatte geworfen …
    »Beruhige dich, mein Junge. Wird schon nichts passiert sein. Morgen früh ist sie wieder da.«
    Und dann brach der Morgen an.

2
    Der Bus kam mit einer halben Stunde Verspätung in Wyshna an. Ywha steuerte auf die nächste Telefonzelle zu und zog ihr zerfleddertes Notizbuch heraus, rührte sich dann aber lange nicht, sondern blickte mit starrem, entrücktem Blick durch das trübe Glas.
    In dieser Stadt lebten mehr als genug Menschen. Und es gab durchaus einige, für die die Wortverbindung »Ywha Lys« nicht nur eine leere Hülse war. Zum Beispiel Beta, mit der sie sich ein Zimmer geteilt hatte. Oder Klokus, der so gern mit ihr befreundet sein wollte. Oder die Besitzerin des Antiquariats am Rosenplatz, eine strenge, auf Etikette bedachte Dame, die Nasar damals an der Tür aufgehalten hatte, um ihm leise ins Ohr zu flüstern: »Das ist kein Mädchen, sondern ein Wunder. Sie sollten keine Sekunde zögern …«
    Normalerweise stellte man in dem Antiquariat niemanden ohne Empfehlungen ein. Doch Ywha passte ausgezeichnet –

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