Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
Vom Netzwerk:
Widerschein eines Feuers. Ywha schloss die Augen. Die Pferde vollführten einen feierlichen Tanz, formierten sich zum Paradezug. Wehende Mähnen, feuchte Rücken, vorquellende Augen …
    Ywha trat nach vorn, erlaubte dem Strudel, auch sie fortzutragen. Kaum erfasste er sie, schleuderte er sie auch schon in einer Spirale hoch, riss sie ins Zentrum, ganz in die Mitte, zur Achse der Windhose, die ein Feuerband drehte. Anmutig flatterte es dort oben, ganz auf der Spitze, inmitten der Sterne, und das Feuer amüsierte sich mit einem Haufen Schrott und drei PKWs, die, gerade weil sie es hatten vermeiden wollen, von der Straße abgekommen waren.
    Die Pferde drehten sich inzwischen immer langsamer, einige schleppten sich nur noch mit Mühe weiter und ließen den Kopf so hängen, dass ihre hellen Mähnen fast den Boden berührten. Ihr neuer Körper, das spürte Ywha in nahezu schmerzlicher Weise, hatte sich bereits eingefunden.
    »Mutter! Wiedergeborene Mutter!«
    Ein Meer der Zärtlichkeit. Ein Meer heißer Augen. Ein Meer von Berührungen, mal zarten, kaum wahrnehmbaren, mal schmerzhaft festen, dabei jedoch süßen, heißen und aufrichtigen. Ein Festtag, voll des inneren Sinns.
    Ywha erschauderte.
    Die Windhose, die sie in den Trichter gezogen hatte, unterwarf sich ihr jetzt, verschmolz mit ihr, saugte sie in sich ein, erhob sich über ihren Kopf. Und Ywha sah, den Kopf im Nacken, durch die hohle Röhre hindurch, die sich drehte, die Sterne.
    Sie verströmte Liebe wie ein sommerlicher Fluss des Morgens Dampf verströmt. Wie ein erregter Menschenkörper. Wie der Mond sein Licht. Ganz von selbst, natürlich und einfach, ohne ihr Zutun.
    Sie vermochte ihre Gesichter nicht zu unterscheiden. Doch ausnahmslos gehörten sie alle zu ihr, ihre Kinder, die Anteile ihres Wesens, die Zellen ihres neuen Körpers, ihre Finger, Haare und Augen. Staunend nahm sie wahr, wie das Leben in sie einströmte. Dieses Gefühl war so heftig, dass es ihre Kräfte überstieg. Für einen Augenblick gestattete sie es sich daher, in die Hülle jener rothaarigen jungen Frau zurückzugleiten, in deren Augen sich die Scheibe des Mondes spiegelte.
    Sie lief an Glastüren vorbei, die splitternd zerfielen, sobald sie sich näherte, spürte auf ihrem Gesicht den Luftzug einer gigantischen Klimaanlage, lachte und zuckte die Achseln.
    Die Dunkelheit zerplatzte. Ein Gebäude erstrahlte, leuchtete bis hinauf in die Glaskuppel, bis in den letzten Winkel, das Haus ertrank in fidelem elektrischen Licht, in diesem selbstgewissen Licht des ewigen Tages, das nichts von einem gelben Mond wusste, von Kerzen oder lodernden Fackeln. Rolltreppen erwachten und surrten los, krochen nach oben und nach unten, Flügel von Ventilatoren schossen steil in die Luft, allenthalben leuchteten kleine bläuliche Bildschirme auf; in dem Schirm, der ihr am nächsten stand, erblickte Ywha ihr kleines Ich mit dem reglosen, bleichen Gesicht, den brennenden Augen und einer Feuerkugel aus Haaren, in denen genau in diesem Moment ein Miniaturblitz aufzuckte.
    Ywha brach in schallendes Gelächter aus. Die Bilder stapelten sich übereinander. Die rothaarige Frau stellte sich als gänzlich überflüssige Besitzerin dieses menschenleeren Supermarkts heraus. Während ihr wahres Ich, dessen Körper gerade in einem von wahnsinnigen Pferden umrahmten Strudel mitten in der Steppe entstand, sich als ganz und gar überflüssige Herrin dieser großen Welt entpuppte.
    Die allerdings, wie sie nun wusste, gar nicht sonderlich groß war.
    Sie schritt zwischen den Regalen und Ständern aus, zwischen dem bunten Einerlei aus Konsumgütern und Lautsprechern, Schaufensterpuppen, Leder, Chrom und Nickel, Porzellan, Spiegeln, knalligen Schachteln und Pflanzen. Auf dem Doppelbett, das nach Leinen und Lack roch, lagen aufgeschlagen – die Seiten gierig ineinander verschlungen – schamlose Pornozeitschriften sowie ein hervorragend editierter Anatomieatlas. Am Boden eines aufblasbaren Planschbeckens war, die Köpfe liegend aneinandergeschmiegt, ein Paar dunkelroter Schwertfische zu sehen; Ywha ging weiter, und zusammen mit ihr bewegte sich das Zentrum des kolossalen Strudels, der Windhose, die am äußeren Trichterrand Pferde kreisen ließ. Über ihr ragte eine dunkle Säule auf, die die Zungen ihrer Feuerlocken nach oben zog. Ab und zu schnappte sich die Windhose, was sie gerade zu fassen bekam, riss etwas aus den glitzernden Regalen, wirbelte das Spielzeug in einer Spirale nach oben, drückte die Glaskuppel ein, brach von

Weitere Kostenlose Bücher