Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
Vom Netzwerk:
Auto stöhnte. Schon seit geraumer Zeit beunruhigte ihn ein stechender Blick. Er begriff nicht auf Anhieb, dass ihn da, ohne einmal zu blinzeln, der tief hängende, gelbe Mond anstierte.
    Die Straße riss immer weiter auf, was ihn zwang, das Tempo zu drosseln, damit er sich nicht vor der Zeit das Genick brach. Aus den Trümmern eines Holzverschlags flatterte ein weißes Huhn auf und stürzte, offenbar um den Verstand gebracht, gegen die Windschutzscheibe, schlug mit den Flügeln, hackte mit dem Schnabel auf diese ein, ohne sich um die aufstiebenden Federn zu scheren, und glotzte den Mann, der hinterm Steuer erstarrt war, voller Hass an.
    An einem Brunnen saß mit gesenktem Kopf ein Toter. Er stierte mit gallertartigem, reglosem Blick vor sich hin. Klawdi wandte den Kopf ab.
    Eine halbe Stunde später brachte der aufgerissene Weg den Graf zu einer weiteren Autobahn. Klawdi glaubte sogar, sich an ihre Nummer zu erinnern. Der Geist der Mutterhexe war hier so klar und deutlich, dass Klawdi es sich gestattete anzuhalten.
    Auf dem Beifahrersitz lagen kreuz und quer allerlei Karten. Zielsicher wählte er die einzige Militärkarte aus, die in nüchterne Planquadrate unterteilt war. Er breitete sie aus, schaltete das Licht ein und fand in dem Geflecht von Straßen auf Anhieb jene winzige Kreuzung, auf der sein verstaubter Graf gerade in aller Einsamkeit parkte.
    Über die Schulter schaute ihm der tief hängende Mond in die Karte. Es hätte nicht viel gefehlt, und Klawdi hätte sie mit der Hand vor dem Himmelskörper abgeschirmt.
    Der Inquisitor konzentrierte sich. Der Geist der Hexe, der satte Geruch des Todes drang durch die Scheibe und das Metall, doch die strategische Karte vermochte selbst dem stärksten Druck zu widerstehen. Schließlich war sie ebenfalls schrecklich, denn die Namen menschlicher Siedlungen fanden sich in solider Nachbarschaft von gleichgültigen Zeichen, die nicht bloß schlicht den Tod symbolisierten, sondern eine unausweichliche, unverzügliche, vollständige und durch nichts verdiente Zerstörung.
    Mit stumpfem Blick auf die Karte schauend, gedachte der Großinquisitor Wyshnas schweigend Seiner Durchlaucht, des verstorbenen Herzogs.
    Danach zog er aus der Innentasche seines Jacketts das kleine rechteckige Kästchen mit dem schmalen Display.
    Wie sehr konnte er sich geirrt haben? Einen halben Kilometer? Einen ganzen? Fünf?
    Würde Wyshna leiden?
    Wer hielt sich noch dort auf, im Umkreis jenes Punktes, der mit einem hellgrauen Kreis markiert war, jenes Dorfes, unter dem in akkurater Kursivschrift »Podralzy« stand?
    In einer Ecke des Displays blinkte ein Zeichen. Die Zentrale war einsatzbereit. Irgendwo tief unter der Erde, wohin der Blick dieses grausamen Mondes nicht reichte, saß ein übermüdeter Offizier mit Kopfhörern und wartete. Wartete ohne Ende.
    Vielleicht wusste er noch nicht einmal, dass sein Oberbefehlshaber tot war? Doch selbst wenn er bereits davon Kenntnis erhalten hatte, spielte das keine Rolle, denn die Kriegsmaschinerie durfte nicht von einem einzigen Menschenleben abhängen.
    Die Erde bebte. Oder bildete er sich das nur ein? Nein, jetzt bebte sie noch einmal, und der Geist der Mutterhexe gewann weiter an Kraft. Kurz nahm es Klawdi den Atem. Neben diesem Wesen waren alle Inquisitoren der Welt hilflos – selbst wenn sie sich zusammenschlössen oder es ihm gelänge, sich zum Anführer von allen aufzuschwingen und den Willen seiner Kollegen an den seinen zu koppeln.
    Da brach er in ein Gelächter aus. In ein heiseres und tiefes, aber aufrichtiges Gelächter. Fast ohne Bitternis.
    Podralzy. Woher nahm er die Gewissheit, dass sie sich in Podralzy befand? Eine überflüssige Frage, sein Geruchssinn hatte immer ausgereicht, einen Schlachthof zu orten. Auf einem anderen Blatt stand allerdings, dass er sich nie darum gerissen hatte, einen Schlachthof aufzusuchen; jetzt blieb ihm allerdings keine andere Wahl …
    Podralzy. Der Ort, an dem sie initiiert worden war. Diese Hündinnen, die sie initiiert und in ihre Welt gezerrt hatten, die nun nicht mehr so war wie einst, während sie selbst, glaubte er denn ihren Worten, das Ganze heil überstanden hatte. Also trug die Welt die Schuld an allem! Diese Biester, diese Ungeheuer, warum hatten sie …?
    Ohne nachzudenken, schätzte er völlig automatisch die Entfernung zwischen Podralzy und der grauen Kreuzung, auf der sein Graf parkte, ab. Fünf Kilometer. Was hatte der verstorbene Herzog noch gleich gesagt? »Sehen Sie zu, sich möglichst fern

Weitere Kostenlose Bücher