Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
Vom Netzwerk:
den panisch dahinrasenden Rolltreppen kleine gläserne Splitter und vom Mond Lichtreflexe ab. Diejenigen, die ihre Kinder waren, fügten sich ebenfalls der Windhose, es zog sie zwangsläufig zu ihr, saugte sie an, drängte sie zum Zentrum, zu der schwarzen Säule des Strudels, dessen Teil sie, Ywha, jetzt war. Ihre Kinder bewegten sich gleich den Pferden am Trichterrand, im Kreis, in einer Spirale, und verzaubert näherten sie sich sekündlich weiter dem innersten Sinn, dem Wertvollsten auf dieser Welt, dem Einzigen, das Wert besaß, ihrer Mutter …
    Die Windhose spielte mit einer Unzahl kleiner Spiegel. Die Windhose ließ Lichtreflexe auf den Supermarkt regnen, indem sie Puderdosen aufklappte, die sich widerstandslos öffneten, ganz so, wie Muscheln unter dem Druck eines Messers ihre Perle entblößen. Und es rieselten Klümpchen weißen Puders herab, die als feiner Staub durch die Luft trieben. Und es funkelten die Spiegel …
    Das Grundmotiv, schoss es Ywha durch den Kopf, während sie sich daran ergötzte, wie all diese nutzlosen, aber außerordentlich hübschen Dinge durch die Luft flogen. Das Grundmotiv, das, was zum Einzigen wird …
    Das Wort beschwor eine Art Erinnerung herauf. Das Licht einer Fackel und die Hände eines Menschen, eines Mannes, mit einem feinen Geflecht von Adern und einem verknäulten Netz von Schicksalen in den feingliedrigen Händen …
    Die Windhose verdichtete sich und presste die Erinnerungen aus ihrem Kopf – presste sie heraus und warf sie zu einem der schwarzen, strahlenden Löcher in der Glaskuppel hinaus.
    Sie bestieg ein rundes Podium, auf dem einsam ein gigantischer Stuhl mit einer hohen geschnitzten Lehne thronte. Gemessen und majestätisch schritt sie aus, gleichsam als fürchte sie, die Krone fallen zu lassen – bei der es sich um die schwarze rotierende Säule handelte.
    »Wiedergeborene Mutter!«
    Sie riss die Arme hoch.
    Das Licht verlosch. Der Mond blickte durch die zerbrochene Glaskuppel, und in der Ferne, vielleicht am anderen Ende der Welt, schlug eine Glocke.
    »Wiedergeborene Mutter!«
    »Zu mir, meine Kinder, kommt zu mir.«
    In Wahrheit sprach sie kein Wort. Die Windhose über ihr blähte sich, verwandelte sich von einer Säule erst in einen Kegel, dann in eine Kugel. Von der unbändigen Rotation erfasst, flog alles in die Luft, was seit Jahren an die eigene feste Verwurzelung glaubte.
    Alle Gegenstände, die sich bisher für wertvoll gehalten hatten, all die Objekte aus Metall und Stoff, Glas und Plastik, all die Leitungen und Schnüre verflochten sich nun, verführt von einem höhnischen Reigen. Inmitten dieser Bruchstücke schwebten lachend und Purzelbäume schlagend ihre Kinder, und es kam ihr vor, als rühre sie eigenhändig diese Brühe um. Die Windhose gewann an Größe, wuchs immer schneller an, riss den Putz von den Wänden, bohrte sich in Ziegel, katapultierte Fragmente des Mauerwerks in die Höhe und zerdrückte schließlich den Rest der Glaskuppel, um das Gemenge dem Mond ins Gesicht zu blasen, woraufhin sich dieser für einen Augenblick verfinsterte, indem er sich mit einer schwarzen Schicht aus Rauch und Asche überzog.
    Von dem Stuhl, gegen dessen eine Armlehne sich die reglos stehende Ywha schmiegte, war dagegen nicht einmal das welke rosafarbene Blütenblatt geglitten, das seit Unzeiten auf seinem Sitz lag. Kein Staubkorn hatte der Stuhl eingebüßt, Ywhas Kleidung hatte nicht geflattert. Ihre Nase nahm den frischen Geruch der Nacht auf. Durch die nackten Rippen des Mauerwerks erblickte sie die Pferde, die der Strudel packte, über die Erde trug und wieder freigab. Und als sie aufkamen, wieder Boden unter den Füßen spürten, setzten sie völlig automatisch die Bewegung fort, als fürchteten sie, andernfalls den Rhythmus zu verlieren.
    Über ihr flogen jetzt keine Relikte der alten Welt mehr. Ihre lachenden Kinder mit den in der Windhose flatternden Haaren und Gewändern streckten ihr die Arme entgegen und kamen mit jeder Sekunde näher, über einen langen süßen Weg, im Kreis und in einer Spirale.
    Irgendwann setzte sie sich, warf den Kopf in den Nacken, richtete sich gerade auf, ohne mit dem durchgedrückten Rücken die geschnitzte Lehne zu berühren. Sie schloss die Augen und stellte sich in aller Klarheit das Schicksal vor, das der Welt bevorstand.
    Die schönste aller Welten. Das Königreich der ewigen Bewegung, der Kegel eines kolossalen Wirbels, die Herrschaft der Windhose …
    Und der Sterne.
    Sie lachte glücklich, und ihr Gelächter

Weitere Kostenlose Bücher