Das Jahrhundert der Hexen: Roman
der Schusslinie zu halten.«
Im Grunde blieb ihm noch Zeit, mehr noch, er durfte sich Zeit nehmen, eine halbe Stunde vielleicht. Das Auto brachte es gut und gern auf zweihundert Stundenkilometer, die Straße war vorzüglich, da würde er ein gutes Stück von hier wegkommen, um sich in irgendeine Höhle zu verkriechen.
Auf einmal wünschte er sich nichts sehnlicher als zu schlafen.
Er stellte sich vor, wie er, nachdem er in einer Höhle die ferne Explosion und das Erdbeben abgewartet hatte, aus seinem Versteck kröche. Wie er sich die Asche abklopfte …
»Es ist kalt«, flüsterte er.
Die Szene lief erneut ab, in Zeitlupe und Vergrößerung: Eine Wagentür ließ sich erkennen, die geöffnet wurde; knirschende Erdklumpen, vom Wind herangetragen; ein Dämmerhimmel, eine Welt, frei von Hexen, frei von der Mutterhexe …
Wie hatte Atryk Ol das schaffen können? Immerhin hatten ihm keine Atomraketen zur Verfügung gestanden! Wie hatte er es geschafft? Wie nur?!
Klaw, sagte Djunka voller Mitleid. Klaw, du bist krank, etwas mit dem Herzen, glaube ich, Klaw.
Bald werde ich fünfundvierzig, antwortete er finster. Was wunderst du dich da, Djun. Außerdem hatte ich schon früher solche Probleme.
»Womöglich kommt das für Sie einer Beleidigung gleich, aber die Inquisition ist in unserer Welt eben nicht die stärkste Kraft, Klaw.« Das waren die Worte des Herzogs gewesen.
Stimmt, das beleidigte ihn. Er hatte sich immer für den stärksten Inquisitor von allen gehalten. Und so war es ja auch gewesen. Manch einer war ihm in der Kunst des Intrigenschmiedens überlegen, manch einer zeigte größere Talente als Verwalter … Aber an Stärke konnte es niemand mit ihm aufnehmen, das hatten sowohl Foma aus Altyza wie auch Tanas aus Rydna verstanden, ja, sogar der Herzog hatte das verstanden. Klawdi Starsh hatte davon geträumt, an den Ruhm Atryk Ols heranzureichen – doch stattdessen würde er nur auf einen Knopf drücken, ganz wie ein feiger und herzloser Politiker, und den Schlag mit fremden Händen ausführen. Noch dazu einen solchen Schlag! Einen schmutzigen, gemeinen und ehrlosen Schlag!
Und all das nur, weil er seine Chance nicht genutzt hatte. Weil er die rothaarige Frau nicht mit dem Silberdolch erstochen hatte. Weil er sie nicht in dem Verlies eingemauert, sondern ihr erlaubt hatte, ihren Weg zu gehen, weil er ihre Initiation zugelassen hatte. Und alles, was er jetzt tat, stellte lediglich eine Korrektur dieses Fehlers dar …
Fest entschlossen legte er den Daumen auf den Sensor. Eine endlose Sekunde lang geschah nichts, seine Nackenhaare wollten sich bereits sträuben, als endlich das schnöde Wort »Code« im rechteckigen Display aufblinkte.
Der Mond verstand nicht, was hier vor sich ging. Der Mond glotzte nach wie vor finster und böse. Später aber würde der Mond einen Schreck kriegen – danach.
Er gab den Code ein. Nachdem er freigeschaltet worden war, studierte er aufmerksam die Karte und gab die Koordinaten des Dorfes Podralzy ein.
Anschließend warf er einen Blick aufs Zifferblatt und setzte die Zeit fest, wobei er klugerweise bis zur Explosion einen Spielraum von einer Stunde ließ. Sechzig Minuten.
Am Ende starrte er lange und mit leerem Blick auf die rot blinkende Schrift, die ihm mitteilte, sein Befehl werde ausgeführt, sobald er die Identifikation über den Sensor wiederholt und den roten Knopf gedrückt habe.
Diesen roten Knopf drückte er jedoch nicht; stattdessen verstaute er das Kästchen behutsam in der Innentasche seines Jacketts, ließ den Motor an und fuhr leise und sehr langsam weiter – in die Richtung, aus der ihn der Atem der Mutterhexe anwehte. Auf das Dorf Podralzy zu.
Kurz vor Mitternacht erreichte die Prozession ihren feierlichen Höhepunkt. Der Himmel, diese riesige Pauke, dröhnte, jeder dieser triumphalen Trommelschläge federte schwungvoll von dem glänzenden dunkelroten Gewebe zurück. Auf ihrem Weg hatte Ywha eine Niederung entdeckt, ein rundes Tal mit sanften, grasbewachsenen Hängen, einem harten Asphaltboden und einem gigantischen Gebäude in der Mitte. Das Haus hatte ein dunkles Glasdach, in der Nähe brannte ein Feuer aus Autos, die wie Holzscheite aufgeschichtet waren. In dem schrecklichen gelben Feuer tanzten, drehten sich im Kreis, wirbelten wie von einem Strudel erfasst: wilde Pferde, ohne Geschirr.
Der Rhythmus verlangsamte sich, Ywha hielt an.
Ein dumpfes Gewieher. Ungestümes Hufgetrampel, jedoch fern und kaum hörbar. Auffliegende Erdbrocken, der
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