Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
Vom Netzwerk:
Worten verschwand er.
     
    Als der Winter anbrach, hielt es Juljok Mytez, der bislang geduldig darauf gewartet hatte, dass Klaw »gesund« wurde und den Kampf gegen seinen Kummer gewann, nicht mehr aus und probte den Aufstand. »Du bist doch nicht normal! Du bist verhext, geplatzt wie ein Fieberthermometer in kochendem Wasser! Wenn das so weitergeht, rufe ich den Notarzt, damit der dir ein Beruhigungsmittel spritzt! Was soll das denn? Kannst du nicht tagsüber gehen, sonntags, wie alle Leute?!«
    Klaw öffnete den Mund und wünschte seinen Freund an einen Ort, von dem es kein Zurück gab. Tödlich beleidigt schwieg sich Juljok lange aus.
    Eine Woche später fing sich Klaw tatsächlich eine Erkältung ein und erkrankte, jedoch nicht ernstlich, man steckte ihn bloß für eine Woche ins Krankenzimmer. Aus dem Reich der Medizin konnte er sich nicht unbemerkt davonstehlen; als er es doch einmal versuchte, hätte ein mürrischer Pfleger den aufsässigen Patienten beinahe zusammengeschlagen. Seines wichtigsten Lebensinhalts beraubt, zog sich Klaw die Decke über den Kopf und wandte sich in einer ganz normalen Fieberphantasie an Djunka. »Verlass mich nicht …«
    An dem Tag, als er gesundgeschrieben wurde, fand in der Schule der traditionelle Winterball statt. Für Klaw bot sich damit eine willkommene Gelegenheit zu verschwinden, und zwar ohne Aufsehen zu erregen. Er schützte Schwäche und Kopfschmerzen vor – und nach seiner Krankheit war er in der Tat schwach – und weigerte sich, Juljok und seiner Mandoline Gesellschaft zu leisten. Gegen Abend brach jedoch ein Schneesturm los, der so heftig tobte, dass selbst der fanatische Klaw genug Verstand besaß, auf einen Friedhofsbesuch zu verzichten.
    Während sich alle anderen amüsierten, saß Klaw im leeren Zimmer an dem zugeschneiten Fenster. Vor ihm stand eine elektrische Lampe in Form einer dicken, gedrehten Kerze auf dem Tisch. Das Spiegelbild der Lampe in der schwarzen Fensterscheibe wirkte wie eine richtige brennende Kerze; vor dieser Kerze saß ein trübsinniger Junge, der sich für erwachsen hielt – und sein Spiegelbild war nicht minder streng, nicht minder finster. Böser, wütender Schnee hämmerte gegen das Fenster.
    Das Gefühl schlich sich keineswegs hinterrücks an. Klawdi ertappte sich dabei, wie er bereits seit einigen Minuten angespannt lauschte, vielleicht auf die fernen Ballgeräusche, vielleicht auch auf das Heulen des Windes, vielleicht auf sich selbst. Das zarte Würmchen der Panik rührte sich zunächst kaum merklich in seiner Brust, ruckte dann unter Schmerzen, als hinge es am Haken, und jagte einen Schauder über seine Haut, der weitaus kälter war als der Frost draußen. Klaw meinte, das Licht der kerzenartigen Lampe in der Scheibe flackere wie eine Flamme in der Zugluft.
    Er schlug die Hände vors Gesicht. Ein paar Sekunden lang saß er da und versteckte sich hinter dem nicht sehr soliden Gitterwerk seiner verschränkten Finger vor der Welt. Schließlich zog er die Schublade unter dem Tisch auf, ertastete das Röllchen mit den weißen Tabletten und nahm gleich zwei, die er ohne Wasser herunterschluckte.
    Kurz darauf hatte er seine Ruhe wiedergefunden. Eine gewaltsam herbeigeführte Ruhe freilich, als sei sein hämmerndes Herz in eine Zwangsjacke gesteckt worden. Schläfrig blinzelte er, gähnte, schaute auf die dunkle Glasscheibe und ließ den Kopf auf die Hände sinken.
    Das nächste Mal bohrte sich die Unruhe durch seine schlaftrunkene Benommenheit – wie ein Messer durch Watte. Klaw rang kurz mit sich, dann stand er auf und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Das Licht flutete bis in den hintersten Winkel des Zimmers, in Klaws Innerem herrschte jedoch noch immer Finsternis und Panik. Reglos, als sei er an das Eisengeländer einer unsichtbaren Treppe gekettet, lauschte er auf die weichen Schritte, wie sie die Stufen erklommen. Sie näherten sich langsam, aber zielstrebig und ohne zu zögern. Wer kam da? Was kam da?!
    Ihm war klar, wie dumm es aussehen würde, wenn er mitten in der Nacht in den Ball platzte, bleich und verschreckt, in einem verwaschenen Trainingsanzug. Das war ihm klar, und er biss sich auf die Lippe, doch weder Stolz noch Scham vermochten ihn aufzuhalten, als er zur Tür hinausstürzen wollte.
    Welches Gefühl es dann eigentlich war, konnte er nicht sagen.
    Gegen die Scheibe bollerte trockener Schnee. Die elektrische Kerze brannte gleichmäßig, die Deckenlampe leuchtete hell und rein, im Fenster ließ sich wie in einem

Weitere Kostenlose Bücher