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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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Lauerten hier etwa Verrückte? Vergewaltiger? Kannibalen?
    Eine Frau schrie. Scharf und laut wie ein großer Vogel. Die Taschenlampen krochen vorwärts und drifteten zu einem Halbkreis auseinander. Ywha fühlte sich wie in einem schlechten Traum: Ihre Beine sollten sie forttragen, rührten sich aber nicht von der Stelle.
    Zwei Frauen sprangen auf Ywha zu. Da sie in der Dunkelheit und im Lauf nur schlecht auszumachen waren, wirkten sie fast wie Zwillinge. Beide waren jung und bleich, beide trugen nur Lumpen. Und in beider Augen glomm die Panik eines gehetzten Tiers, eine pathologische Angst, derzufolge dem, was sie in der Dunkelheit verfolgte, ein hundertfach größerer Schrecken anhaftete als dem Tod.
    Ywha wich zurück. Die beiden huschten an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken, obwohl sie sie fast umgestoßen hätten. Von ihnen ging ein Geruch aus, den Ywha nicht einzuordnen wusste, der jedoch noch vom Geruch der Angst überlagert wurde. Kurz verlor Ywha die Kontrolle über sich.
    Sie ergriff die Flucht. Sie musste es bis zur Metro schaffen, die Straße erreichen und diese schreckliche gelbe Mauer hinter sich lassen. Sie feuerte sich an weiterzulaufen, alles zu geben …
    Die beiden rannten vor ihr her. Als sie sich unter dem dunklen Bauch eines Waggons abduckten, begriff Ywha, dass auch ihre Rettung dort lag. Kalt funkelte das Gleis im Licht einer einsamen Laterne. Sich die Hände aufkratzend und die Tasche wegwerfend, die sie nur behinderte, kroch sie auf die andere Seite. Wieder und wieder verschwand sie unter den Waggons – eine Füchsin im Wald, der von Jägern umstellt war, ein rotfelliges Tier, das der Hatz zu entkommen suchte, seine Spuren verwischte und weiterlief, immer weiter …
    Das grelle Licht der Taschenlampe spiegelte sich in einer Konservendose wider, die jemand weggeworfen hatte. Ywha schrie auf. Die beiden, die vor ihr herrannten, ebenfalls. Keinen klaren Gedanken vermochte Ywha mehr zu fassen, und so verwandelte sie sich endgültig in ein Tier, das den schmalen Grat zwischen Leben und Tod entlanghetzte; mit letzter Kraft wollte sie sich durch einen schmalen Mauerspalt zwängen. Hinter dieser Mauer winkte Rettung, da gab es Menschen und Häuser, da gab es …
    Im letzten Moment packte sie jemand am Bein. Die blassen Zwillingsgestalten schrien erneut auf, zweistimmig, jämmerlich und panisch.
    Es waren so viele. Und sie waren überall. Sie bildeten Ringe, diese Schwarzgewandeten, die sich in der Dunkelheit der Nacht verloren hätten, wenn ihre groben Westen aus Kunstpelz nicht im schneidenden Licht der Laternen gefunkelt hätten. Kaum hatten sie einen Kreis gebildet, legten sie die Hände auf die Schultern des Nebenmannes und schritten vorwärts.
    Ein Schrei.
    Der Kreis der Tänzer zog sich zusammen, als sei er eine fleischfressende Pflanze, die eine Fliege erwischt hat und die Blatthälften zufrieden über der Beute zusammenklappt, als sei er ein grummelnder Magen, der sich anschickt, alles Lebendige zu verdauen, das unvorsichtigerweise in seine Nähe gekommen ist. Der Tanz der Tschugeister ist nichts anderes als das Instrument, mit dem eine grauenvolle Strafe vollzogen wird.
    Ihr Reigen begann, dieser Wechsel komplizierter Bewegungen, mal langsamer und bedächtiger, mal abrupter und entschlossener, ganz so wie bei einem Spinnrad, das seine Fäden ausspuckt. Nur dass dieser schwarze Ring, der sich drehte, jemandem den Tod brachte.
    In die Szenerie mischte sich der Veilchengeruch, ein unnatürlich starker Geruch.
    Die Erde erbebte.
    Mit jeder Bewegung vervielfältigten sich die unsichtbaren Fäden, die auf ihre Opfer einpeitschten, diese pulsierenden Schläuche, die ihnen das Leben nahmen, diese schwarzen Rüssel, die ihnen die Seele heraussaugten. Zwei Schatten lagen in einer quälenden Agonie, ein dritter gehörte der erstarrten, lautlos schreienden Ywha.
    Die erstickende, nach Veilchen riechende Nacht wendete alles nach links, und von der dampfenden, nach außen gekehrten Innenseite ihres Fells baumelten die inneren Organe herab.
    »Hexe …«
    Zu ihrem Glück verlor Ywha kurzzeitig das Bewusstsein. Die Tschugeister zogen sie, gepackt an Armen und Schultern, über das Gras und die kleinen, sich in den Körper bohrenden Steine. Die Nacht verwandelte sich in Tag, denn gleich mehrere Scheinwerfer knallten ihr ins Gesicht, das sie aufkreischend mit den Händen bedeckte.
    »Halt den Mund, du Idiotin!«
    »Ich gehöre nicht zu denen!«
    »Das kannst du uns alles noch nachher erklären …«
    Dann

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